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Maxence Cyrin - Where is my mind

 

"The Beauty and the Beast"
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Januar 1940


Armando fühlte sich hellwach, auch wenn die Kirchturmuhr bereits elf Uhr nachts schlug. Er war unterwegs in London, wo er nach der Arbeit einen Anstandsbesuch bei Louise gemacht hatte. Es war schon Ewigkeiten her gewesen, seit er sie das letzte Mal besucht hatte.
Sie war immer so aufgeregt, wenn er kam, sass stocksteif da und starrte ihn an, unentwegt nickend während er redete und sie stumm wie ein Fisch war.

Ja, er musste zugeben, äusserlich stimmte alles. Die silberblonden Locken, die grasgrünen Mandelaugen und die kurvige Figur, nicht zu gross, aber auch nicht winzig. Sie war nicht vorlaut, sie war höflich, wohl erzogen und zuvorkommend. Und natürlich war sie reich. Sie war perfekt.

Und doch spürte Armando nichts, als er vom Hausdiener in der imposanten Eingangshalle des Stadthauses der Ratcliffs in Empfang genommen und in den Salon geführt wurde. Keine wachsende Erregung bevor er ihr hübsches Gesicht erblicken würde. Keine Vorfreude auf ihre warmen, samtweichen Hände, kaum berührt von dem sanften Kuss, den er darauf hauchen würde. Keine Nervosität, wie sie ihn wohl finden, was sie über ihn denken würde. Obwohl, er konnte sich nicht vorstellen, dass ihn je eine Frau nervös machen würde. Nicht ihn, stark, unbeugsam, mächtig und unantastbar wie er war. Niemand machte ihn nervös. Höchstens sein Vater hatte das früher geschafft, aber auch das war vorbei.  

Sie hatte ihn erwartet, auf einem mit roten Samt bespannten Sessel, in der Hand eine halbfertige Stickerei, mit einem Rosenmotiv darauf. Sie hatte anmutig ausgesehen, wie eine hübsche, übergrosse Puppe. Gott, was war falsch mit ihm. Da war sie, die ideale Ehefrau und trotzdem war er unzufrieden.

Er erinnerte sich wie sie ihn ansprach, während er weiter die dunkle Gasse entlang schritt. «Armando…», hatte sie gehaucht. Ihre Stimme war so süss wie sie, sie klang wie Honig auf warmem Brot, melodisch und glockenklar. Sie klang nach unerfüllten Versprechen.
«Louise», hatte er etwas steif geantwortet.
Er hatte sich zu ihr gesetzt und sie hatte ihre Handarbeit auf den Tisch gelegt. Sie hatten ein wenig geplaudert, die meiste Zeit hatte er geredet, sprach über St. David’s, über seine Arbeit, das übliche eben. Er hatte noch nie ein tiefgründiges Gespräch mit ihr geführt. Bevor Wehmut darüber in ihm aufkommen konnte, riss er sich zusammen. Eine Ehefrau war nicht für tief gehende Konversationen da, sie sollte ihm den Haushalt führen und für Nachwuchs sorgen. Das war der Grund, warum seine Eltern sie ausgesucht hatten.

Louise Ratcliff, Tochter des Bürgermeisters von London, der zufälligerweise auch noch steinreich war. Er war ein Kohlekönig, der auf dem Rücken tausender armer Mienenarbeiter sein Vermögen gemacht hatte. Ein recht skrupelloser Zeitgenosse, aber immerhin wollte Armando seine Tochter heiraten und nicht ihn.

Nach einer Weile waren Armando die Worte ausgegangen. Er hatte einen Moment geschwiegen und es genossen, dass sie die Stille nicht unterbrach. Das schätzte er an ihr. Sie musste nicht jedes Schweigen mit sinnlosen Worten auffüllen. Wobei das wohl eher an ihrer Schüchternheit als an ihrer Weisheit und Besonnenheit lag. Vielleicht wurde ja doch alles gut, vielleicht konnte er mit diesem Mädchen glücklich werden, das zumindest hatte er versucht sich einzureden.

Bevor er es sich anders überlegen konnte, hatte er in seine Tasche gegriffen, nach der kleinen Schachtel, die darin verborgen war. «Louise», er musste sich räuspern, was war nur falsch mit ihm, das hier war ein ganz normales Geschäft, nur keine Emotionen, «wir kennen uns nun schon seit ein paar Monaten und ich denke es wäre eine gute Idee, wenn wir heiraten. Ich komme aus einer vermögenden Familie und kann für dich in einer Weise sorgen, die du gewöhnt bist.» Gott, das hatte sogar für seine Ohren gezwungen geklungen. Sie würde nein sagen, er wusste es. Fast hoffte er es, auch wenn es ihm davor graute das seinem Vater zu gestehen.

«Oh Armando, wie wundervoll», sie war aufgeregt aufgesprungen. Er hatte innerlich geseufzt. War das wirklich die Frau, mit der er alt werden wollte? Dann hatte er die Dose geöffnet und einen hübschen Diamantring zum Vorschein gebracht. Das Ding hatte ein Vermögen gekostet, aber wie sonst sollte man ein verwöhntes Mädchen beeindrucken?

Er hatte doch keine Ahnung, wie man das Herz einer Frau gewann. Waren die pinken Rosen, die er ihr jede Woche geschickt hatte, der Auslöser für sie gewesen, Ja zu sagen? Oder doch das Diamantcollier, dass er ihr zu ihrem Geburtstag vor einem Monat geschenkt hatte? Er wusste es nicht. Vielleicht war es auch einfach der Druck ihrer Eltern gewesen. Sie war achtzehn, ein gutes Alter um zu heiraten, Kinder zu kriegen, das Elternhaus zu verlassen.

«Hah», er lachte auf, während er weiter durch die Nacht schritt, «ausgerechnet ich, der immer noch bei Mami und Papi lebt…»
Wie gerne wäre Armando in ein eigenes Haus gezogen. Doch das ging nicht, wie hätte das denn ausgesehen. Ausserdem hätte er sich damit der Kontrolle seines übermächtigen Vaters entzogen und das konnte dieser auf keinen Fall zulassen.
Vielleicht konnte er ja in ein eigenes Haus ziehen, jetzt wo er verlobt war? Immerhin würde er etwas Eigenes benötigen, wenn sie dann Kinder bekamen.

Oh Gott, Kinder. Es machte ihm Angst darüber nachzudenken. Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen, davor fürchtete er sich. Was wenn er ein schlechter Vater werden würde? Was, wenn er wie sein Vater würde und seine Kinder ihn hassen würden?

«Reiss dich zusammen, noch hast du keine Kinder», murmelte er. Er sprach manchmal mit sich selbst, er mochte seine Stimme und sie beruhigte ihn. Davon wusste aber niemand, höchstens seine Mutter und es war auch besser, wenn das so blieb. Sein Vater hätte ihn ausgelacht und als schwach bezeichnet, hätte er es gewusst.

Armandos Gedanken wanderten zurück zu der Silberprinzessin, der er gerade seinen Ring an den Finger gesteckt hatte. Gleichzeitig schlenderte er mit einer Selbstsicherheit über das Kopfsteinpflaster, als würde es ihm gehören. Was es als Schwiegersohn des Bürgermeisters in gewisser Weise ja auch bald tun würde.

Was sie wohl über ihn dachte? Wen kümmert das, schalt er sich im nächsten Moment selbst, sie heiratet dich, sie hat dich verdammt nochmal zu mögen und vor allem zu respektieren, das ist alles.
Was sie wohl von ihm erwartete? In einem Moment der Melancholie nahm sich vor, fürsorglich zu sein, alles zu tun, damit sie niemals fror und niemals Hunger litt. Was nicht sehr schwierig sein würde, immerhin erbte er nicht nur sein eigenes unfassbares Vermögen, auch ihres würde nicht ganz unbeachtlich sein…

Und was, wenn sie herausfindet, dass er ein Zauberer war…? Das war die Frage, die ihn umtrieb und der Grund, warum er immer noch in den Strassen unterwegs war, obwohl er schon vor über einer Stunde Louises Haus verlassen hatte. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, konnte, wollte noch nicht nach Hause.  

Er war auf dem Weg in die Winkelgasse, wo er im tropfenden Kessel, dem gerade neu eröffnete Pub am Eingang der magischen Einkaufsstrasse, einen Feuerwhiskey trinken wollte. Doch davor hatte er einen Spaziergang machen wollen, er fühlte sich so rastlos.

Er blieb stehen, nahm die Umgebung um sich herum mit allen Sinnen war. Der Uringestank, der schwer in der Luft hing wie ein nasses Tuch. Die Schatten der Häuser, alle Nuancen von Grau vermischt auf einer grossen Palette. Die kalte Januarluft, die sich eisig um ihn wand wie eine Schlange, bereit ihm den Atem zu rauben.

Es war der erste Januar 1940. Ein neues Jahr. Letzte Nacht hatte es einen eleganten Empfang bei ihnen zu Hause in Berkley Park gegeben, doch heute hatte Armando ins Büro gemusst, wichtige Angelegenheiten, der Chef des Büros für internationale magische Zusammenarbeit hatte ihn gebeten, einen Bericht zu schreiben über die Zusammenarbeit mit den deutschen Magiern im Bereich «Schutzzauber» und warum man diese dringend einstellen musste. Der Zaubereiminister persönlich, Mr. Spencer-Moon, ausserdem ein guter Freund seiner Mutter, hatte um diesen Bericht gebeten. Was wie eine Ehre klang, war für Armando eine lästige Pflicht. Aber nachdem er sowieso früh aufgestanden wäre, er schlief nie länger als bis halb acht, egal um welche Uhrzeit er ins Bett ging, war es kein grosses Problem gewesen, pünktlich im Büro zu erscheinen.

Den Tag über hatte es geschneit und auch wenn von der weissen Pracht am Ende es Tages nichts übriggeblieben war, hatte Armando der Frieden, der mit den Schneeflocken vom Himmel fiel, gefallen.
Normalerweise hochkonzentriert bei der Arbeit, hatte er immer wieder einen kurzen Blick aus dem Fenster seines Büros geworfen und dem weissen Treiben zugesehen. Und wie er so da sass, kam ihm in den Sinn, dass es ein guter Moment war, sich zu verloben.

Die Silvesterparty ist im vollen Gange, Gläser klirren und Gäste lachen ausgelassen. Sein Vater stolziert stolz wie ein Löwe durch die Menge, immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Armando verzieht den Mund zu einem schmerzhaften Grinsen, wie können zwei so unterschiedliche Menschen miteinander verwandt sein? Und was, sprach die boshafte Stimme in seinem Kopf, was, wenn ihr nicht verschieden seid? Was, wenn ihr aus ein und dem selben Holz seid?
«Armando», rief ihn sein Vater, «Im nächsten Jahr musst du uns unbedingt eine Frau vorstellen, es wird Zeit, dass Enkelkinder durch das Haus toben.» Pah, als ob du dich jemals für Kinder interessiert hättest, dachte Armando. Sein Vater sagte es wie im Scherz, aber Armando verstand den Unterton. «Heirate endlich», das war es was sein Vater übermitteln will, «Das ist das Jahr, in dem du deine Freiheit aufgeben und ein sesshafter Mann werden wirst.»

Ein kalter Tropfen fiel von einem Hausdach auf Armandos Kopf und er schüttelte sich. Es war Zeit zu gehen, er sollte nicht so lange im Dunklen herumlungern. Klar, er war ein Zauberer und damit, und natürlich mit seinem Geld, in gewisser Weise unantastbar. Was sollte die Muggelpolizei schon machen, wenn jemand sie rief, weil ein Schatten durch die Strassen schlich und er apparierte, im Nichts verschwand, bevor sie bei ihm ankamen? Was sollten zwielichtige Gestalten, die ihn ausrauben und ein Messer in den Rücken rammen wollten tun, wenn ebendieses Messer sich in ihren Händen in Gummi verwandelte?

Trotzdem, er sollte sein Glück nicht herausfordern. Auch für ihn gab es Regeln. Die Regel, unerkannt zu bleiben, konkret das Geheimhaltungsabkommen, das für alle Magier galt und ihnen verbot, Magie in der Öffentlichkeit zu praktizieren, ausser im Notfall.

Armando hatte gar nicht bemerkt, dass er unbewusst weitergelaufen war, aber plötzlich stand er vorm Tropfenden Kessel. Er mochte diese Bar, sie war ein weitaus eleganterer Eingang in die Winkelgasse als der Gullideckel, durch den alle Zauberer und Hexen früher in den Untergrund steigen mussten, um dann in der magischen Strasse nicht selten dreckverschmiert wieder aufzutauchen. Er war froh, dass jemand die gute Idee gehabt hatte, eine magische Verbindung zwischen Muggel- und Zaubererwelt zu erschaffen. Ein Pub, das aber nur von Magiern gesehen werden konnte, durch das sie ohne jede Mühe in ihre Welt eintreten konnten, eine Parallelwelt zu der Nichtmagischen.

Er trat zügig in das Pub, denn inzwischen hatte es angefangen leicht zu regnen und Armando konnte es nicht leiden, wenn er nass wurde.
Er setzte sich an die Bar und bestellte einen Feuerwhiskey, dieses Pub hatte eine grossartige Auswahl ausgezeichneter Tropfen. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung war. «Nathaniel Stewart», rief er aus. Ausgerechnet der.

PLACES

London

Das Stadthaus der Ratcliffs

der Tropfende Kessel

HISTORY

1. Januar 1940

Montag

Grossbritannien: Per königlicher Proklamation werden 2 Millionen Männer im Alter von 20 bis 27 Jahren für den Wehrdienst verfügbar gemacht.

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