Florence + The Machine - Hunger
"Persistence and Stolidness"

Tuppence bliess den Staub von einer grossen Holzkiste. Während drei Monaten hatten sie in einer Lagerhalle gestanden, doch jetzt, jetzt endlich war es so weit. Sie konnte endlich ihr neues Büro beziehen. Buzzing Whisper Radio, ihr Arbeitgeber, war nach endlosem Hin und Her in ein neues Quartier in der Hauptstadt gezogen. Das, nachdem sich die Angestellten über Jahre beschwert hatten, dass man im alten Büro in den Aufnahmeräumen das Donnern der vorbeifahrenden Züge gehört hatte, trotz Silencio-Zaubern, und ausserdem der Schimmel nicht nur die Wände, sondern auch die Archive befallen hatte.
Tuppence war überrascht, wie aufgeregt sie war. Für sie bedeutete der Umzug ein verbessertes Umfeld, um dem Job, den sie so sehr liebte und der sie so erfüllte nachzugehen. Hier würde sie sich noch mehr reinhängen, noch mehr ins Zeug legen und Geschichten erzählen, die die Zuhörer zum Lachen und Weinen, zum Grübeln und Nachdenken bringen würden. Ja, sie freute sich!
Vorsichtig holte sie ihre Schreibmaschine aus der Kiste. Ihr Hersteller, Remington Noiseless versprach zwar, dass dieses neue Modell nahezu keinen Laut von sich gab, aber da in diesem Grossraumbüro etwa vierzig von den Dingern standen, gab es dennoch eine ganz schöne Geräuschkulisse.
Gedankenverloren rieb sich Tup den Unterarm, wo sich schon jetzt ein blauer Fleck bildete. Während sie, beladen mit drei schweren Kisten, die vor ihr im Treppenhaus in dem mehrstöckigen Haus schwebten, die Treppe hochgestolpert war, war ihr so ein Idiot von oben entgegengekommen. Mit einem halsbrecherischen Tempo war er die Treppe heruntergestürzt und hatte sie dabei so heftig angerempelt, dass ihr Zauberstab zu Boden ging und die Kisten krachend hinterher stürzten. Eine war Penny gegen den Unterarm geprallt und es würde wohl noch einige Tage ein grünbraunes Mal zurückbleiben.
Verärgert und auch etwas trotzig dachte Tup daran, wie der gutaussehende Kerl sich nicht einmal umgedreht, geschweige denn entschuldigt hatte und einfach verschwunden war! Der war bestimmt von Britains Broadcaster, die im Dachgeschoss, dem billigsten Büro in diesem Gebäude, ihre Räumlichkeiten hatten. Billig, weil es im Winter eiskalt und im Sommer kochend heiss unter den unisolierten Dachziegeln wurde. Aber was sollte man schon von einem Radiosender erwarten, der sich nur dank Spenden und öffentlicher Hilfe über Wasser halten konnte, weil sie sich hartnäckig weigerten, sich durch Werbung beeinflussen zu lassen.
Während sie wie alle bei Buzzing Whisper Radio die Nase darüber rümpfte, hatte sie insgeheim tiefen Respekt für die Leute von BB. Wie die mit nahezu keinen Mitteln trotzdem erstaunlich gut recherchierte Geschichten auf die Beine stellten! Und dann war da auch noch das Aushängeschild von BB, Nathaniel Stewart!
Tuppence hatte ihn noch nie persönlich getroffen und doch kam es ihr vor, als wäre er ein guter Freund. Denn jeden Morgen hörte sie ihn im Radio, während sie ihrer Morgenroutine nachging. Exakt, sie hörte einen fremden Radiosender am Morgen und nicht den ihres Arbeitgebers. Aber im Ernst, wer wollte schon beim Aufwachen die Stimmen der Kollegen hören, denen man auch sonst den ganzen Tag zuhören musste?
Aber sie hätte das natürlich nie offen zugegeben, schliesslich war sie eine treue und loyale Mitarbeiterin! Es war eigentlich ein dummer Zufall gewesen, sie hatte damals ausversehen das Radio verstellt und als sie versucht hatte die Frequenz von BWR wiederzufinden war sie, rein zufällig, auf diesen Sender gestossen.
Unter anderen Umständen hätte sie natürlich sofort das Rädchen für die Frequenz weitergedreht, aber diese Stimme, die da aus dem Lautsprecher tönte, hatte etwas Anziehendes. Etwas Faszinierendes. Etwas, das ihr gleichzeitig das Gefühl gab, herzlich in den Arm genommen und ausgelacht zu werden. Eine Stimme, die nach Freundschaft und einer unerhörten Lässigkeit klang, nach Aufrichtigkeit und dem Willen etwas zu verändern in der Welt. Sie hatte das Gefühl, einem lang vermissten Freund zuzuhören.
Erst im zweiten Moment hatte sie auf die Worte, die die Stimme sagte gelauscht. Er hatte über den Krieg gesprochen und er hatte unerhörte Fakten zu erzählen! Er sprach von Deutschland, dass sie Polen angegriffen hätten und nicht, wie überall verbreitet, angegriffen worden wären! Das war ja unerhört! Natürlich hatte Tuppence gerüchteweise davon gehört, und je länger der Krieg auf dem Festland andauerte, desto mehr schien es sich zu bewahrheiten.
Nichts desto trotz, Tuppence hatte noch nie viel auf Gerüchte gegeben. Klar, als Reporterin musste sie manchmal auch Gewisper und Tratsch nachgehen, denn in jeder Gossengeschichte steckte ein Funken Wahrheit. Und doch, sie glaubte an Fakten. Zeugen, die ihr genau erzählen konnten, was wann wer gemacht hatte. Unterlagen, die belegten, wer mit wem wie verhandelt hatte. Fotografien, die bewiesen, wer wen wo getroffen hatten.
Aber dieser Stewart… Er schien tatsächlich Beweise für seine Geschichten zu haben, doch Tuppence und ihre Kollegen hatten keinen Plan woher er sie bekam! Es war zum Haare raufen! Sie versuchten, solide Recherchearbeit zu leisten und, ohne sich selbst loben zu wollen, sie arbeiteten wirklich hart! Doch immer wieder schien ihnen Stewart die Geschichten zu klauen, bevor sie sie bei BWR überhaupt einigermassen recherchieren konnten! Doch anstatt davon entmutigt zu werden, spornte es Tup an, sich noch härter ins Zeug zu legen! Noch gründlicher zu suchen, noch genauer nachzufragen, jeder noch so unglaublichen Geschichte nachzugehen!
Während sie gedankenverloren in der Kiste wühlte, hörte sie die Schritte, die sich eilig ihrem Tisch nährten nicht.
«St. Claire, was machen Sie denn noch hier??» schnaufte der Mann noch bevor er auch nur annährend an ihrem Tisch ankam. Etwas erschrocken hob Tuppence den Kopf und sah einen rotgesichtigen Mann mit Stirnglatze in etwas zu kleinem Umhang schnaufend näherkommen. Die Umhangknöpfe über seiner Brust spannten sich unangenehm und obwohl es draussen sogar für Januar ungewöhnlich kalt war hatten sich Schweissflecken unter seinen Armen gebildet.
«Was, wieso…?» fing Tuppence an, doch ihr Chef wartete gar nicht darauf, dass sie die richtigen Worte finden konnte und unterbrauch sie: «Das Ministerium hat anscheinend einen deutschen Spion festgenommen, er hat angeblich einen Anschlag auf das Zaubereiministerium geplant oder so! Ich habe gerade mitbekommen wie sich zwei von BB im Treppenhaus darüber unterhalten haben. Idioten! Aber nun schnell, schnell! Die haben wohl schon jemanden geschickt! Wenn Sie sich beeilen haben Sie noch eine Chance auf Antworten auf unsere Fragen…»
Doch noch während Mr. Paulsen redete, war Tuppence aufgesprungen und hatte unter den Kisten ihren Winterumhang mit Accio hervor gezaubert. Schon beim Wort Spion hatte ein seltsames Gefühl sie überkommen. Eine Art Kribbeln in der Nase, ein Rauschen in den Ohren, das Gefühl wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, während sie innerlich ganz ruhig wurde. Das Gefühl, das sie an einer Geschichte dran war, einer guten Geschichte, dass sie die richtige Fährte verfolgte! Dieses Gefühl hatte sie noch nie betrogen. Nun musste sie schnell sein!
Während sie schon losrannte, beschwor sie noch schnell eine Tasche mit Schreibzeug in ihrer Hand herauf, wich gleichzeitig einer durch ein offenes Fenster anfliegenden Schleiereule aus und stolperte durch den grossen Raum.
«… Ministerium verabschiedet Gesetz zum Schutz von magischen Tierwesen…», «… sagte der Zaubereiminister in seiner Neujahresrede…», «…Der Mann, der in der Winkelgasse beim Stehlen eines Kessels erwischt wurde, wurde zu einer Busse von 1 Galleone….» schallte es ihr von den verschiedenen Schreibtischen der einzelnen Reporter von BWR entgegen, die alle ihren Schreibmaschinen Berichte für die nächsten Reportagen im Radio diktierten.
Doch Tuppence hatte kein Ohr für Gesetze, Politiker oder Verbrecher, sie hörte nur das vertraute Rauschen in ihren Ohren, fühlte ihr Herz bis in ihren Hals schlagen während sie schon das Treppenhaus runterhastete. Auf der Strasse, einer Nebengasse der Winkelgasse angekommen, drehte sie sich auf der Stelle, kaum war sie aus der Tür draussen. Einen Wimpernschlag später stand sie schon in der Eingangshalle des Zaubereiministeriums. Der Spion war sicher in der Abteilung für magische Strafverfolgung. Also in den Lift und ab….
Als sich die Lifttüren im ersten Stock öffneten erblickte Tuppence bereits etwa zwei dutzend weitere Reporter von den verschiedenen Radiosendern und Nachrichtenblättern Grossbritanniens. Nun war guter Rat teuer. Natürlich hätte sie sich zu der Gruppe gesellen können, doch dann hätte sie in ihren Nachrichten genau die gleichen Antworten gebracht wie alle anderen im Land auch, und die Exklusivität wäre dahin gewesen. Nein, sie würde sich nicht mit den üblichen offiziellen Antworten abspeisen lassen. Sie würde sich jemanden schnappen, keinen Auroren und auch keinen der leitenden Beamten… Ein kleines Licht, jemanden Unscheinbaren, an dem alle anderen nur vorbeirannten. Jemand, den die anderen gar nicht beachteten, den niemand sah. Jemand wie….
Während sie noch nachdachte, war sie unauffällig von der Gruppe am Empfangstresen weggeschlendert, wie zufällig hinein in das Büro der Auroren. Und auf einmal stand sie, zufällig natürlich, in der kleinen Küche, in der ein junges Ding gerade einen Teekessel mit dem Zauberstab antippte.
Tuppence räusperte sich vorsichtig und das Mädchen zuckte erschrocken zusammen, als hätte Tuppence sie bei etwas Verbotenem erwischt. Ausgezeichnet, sie war hübsch, aber schien sich dessen nicht bewusst zu sein, denn jetzt zog sie den Kopf ein, als würde sie Schelte erwarten anstatt Tup anzuherrschen, was zum Teufel sie hier zu suchen habe.
«Kann… kann ich Ihnen helfen?» stotterte das Mädchen.
Tuppence straffte die Schultern und setzte ein freundliches Lächeln auf, doch in diesem Moment sprach eine melodische tiefe Stimme hinter ihr.
«Ja, ich hatte gehofft Sie könnten mir ein paar Fragen beantworten. Wissen Sie, ich wollte schon immer wissen, wie es so ist, so nahe mit den Auroren zusammenzuarbeiten, am Ort des Geschehens sozusagen…»
Entgeistert drehte sich Tuppence um und blickte direkt ins Gesicht des gutaussehenden Idioten, der sie beinahe die Treppe heruntergeschmissen hätte!
«Hallo, mein Name ist Nathaniel Stewart» lächelte er sie an und wandte sich dann wieder dem Mädchen zu. «Hätten Sie Zeit und Lust einen Tee mit mir zu trinken? Ich kenne eine nette kleine Teestube ganz in der Nähe und würde Sie sehr gerne einladen.»
Harrold Paulsen
Rosalie Sinclair
4. Januar 1940
Donnerstag
Deutschland: Göring wird zum Leiter der deutschen Kriegswirtschaft ernannt, um der alliierten Blockade zu begegnen.