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Lord Huron - The night we met

 

"The Coin of the Realm"
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Avesnes-le-Comte, 7. Januar 1940

Meine Geliebte,

Wie geht es dir und Charlie? Ich vermisse euch so schrecklich. 

Wir marschieren viel, zuletzt nach Avesnes-le-Comte. Keiner von uns kann diesen Ortsnamen aussprechen, deswegen nennen wir die Stadt Avers-Comt. Ich weiss schon gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal trockene Füsse hatte, denn der Schlamm kriecht uns durch die Stiefel. Ansonsten ist die Stimmung positiv, alle sind guter Dinge. Ein paar sind ein bisschen erkältet, aber nicht schlimm. 

Hoffentlich ist dieser Krieg bald vorbei, damit ich dich wieder in meine Arme schliessen kann. Ich liebe dich. Gib Charlie einen Kuss von mir.

Für immer der Deine, Isaac

 

-



Seit Stunden hatte Tuppence vor dem Ministerium gewartet, in der kleinen Gasse gleich neben dem Imbiss. Er machte wohl Überstunden, genau wie sie selbst mittlerweile. Sie spürte die Kälte der Wand, wo sie sich mit dem Rücken angelehnt hatte. Während andere längst aufgegeben hätten, hatte sie sich schon längst festgebissen, nachdem sie von Rosalia de Vautart erfahren hatte, dass der leitende Auror im Fall Walter Kleine ein gewisser Timotheo Knight war. Verschwommen meinte sie sich zu erinnern, dass er in Hogwarts drei Jahre über ihr gewesen war, in Ravenclaw? Sie war sich nicht mehr sicher. Und wie es der Zufall wollte, hatte sie gestern in ihrem Lieblingsimbiss mit der Verkäuferin, Pomelda, getratscht und dabei herausgefunden, dass er sich oft hier noch etwas zum Abendessen besorgte, bevor er nach Hause irgendwo in Wales apparierte. 

Nun wartete Tuppence neben dem Imbiss auf Mr. Knight, um ihn abzupassen und mehr über diesen Fall mit dem deutschen Spion herauszufinden. Wie sie dank Pomelda wusste, apparierte Mr. Knight nach seinen Besorgungen immer aus dieser Gasse. Sie hätte natürlich auch vor dem Ministerium warten können, aber das rief immer schnell die Sicherheitszauberer des Zaubereiministeriums auf den Plan und nach ihrer letzten Begegnung mit dem ministeriumseigenen Sicherheitsdienst war Tuppence nicht gerade scharf darauf, sich am Ende noch ein Hausverbot einzuhandeln oder unangenehmen Fragen zu stellen. Aber langsam konnte er wirklich auftauchen. Ganz kurz überlegte sie, ob sie nicht doch aufgeben sollte. Ein anderes Mal probieren? Vielleicht hatte er heute Abend keinen Hunger? Doch sie verwarf den Gedanken sofort, denn sie hasste es aufzugeben. 

Nur wenige Minuten später wurde ihre Hartnäckigkeit belohnt, als eine dunkle Gestalt mit wehendem Mantel in die Strasse einbog. Er warf mehrmals einen leicht nervösen Blick über seine Schulter, ein Merkmal, dass sie schon bei mehreren Auroren beobachtet hatte. Schien wohl Berufsrisiko zu sein. Ausserdem hielt er eine Tüte Kürbispasteten in der Hand, laut Pomelda eine von Mr. Knights Leibspeisen. Das musste er sein. Sie stiess sich von der Wand ab und ging auf den Mann in dem schwarzen Umhang zu, bevor er apparieren konnte. 

«Mr. Knight,» sprach sie ihn an, nicht mit fragendem Unterton, sondern mit der Gewissheit, dass sie richtig lag. Sie gab ihm einen kurzen Moment, sie in der Dunkelheit zu fokussieren und ihr entging nicht, dass seine Hand reflexartig zu seiner Tasche gehuscht war, vermutlich auf dem Weg zu seinem Zauberstab. Dann fuhr sie fort: «Mein Name ist Tuppence St. Claire. Haben Sie einen kurzen Moment für ein paar Fragen?» Und ohne auf eine Erwiderung zu warten fragte sie weiter: «Was wissen Sie über Walter Kleine? Was wollte er im Ministerium?»

Mr. Knight seufzte. Kurz blickte er über seine Schulter, als würde er überlegen, einfach davon zu apparieren. Schliesslich liess er sich doch zu einer Antwort herab. «Miss St. Claire, Sie sollte sich mit solchen Fragen besser an den Sprecher des Zaubereiministeriums wenden. Die können ihnen viel besser helfen. Ich bin nur ein Auror, ich weiss nicht viel von diesen Dingen.» Er wirkte unsicher, etwas nervös. War es wegen der Fragen, die sie ihm stellte? Tuppence beschloss weiter nachzuhaken. «Aber sie wissen doch sicher etwas», bezirzte sie ihn. «Als Auror hat man doch bestimmt immer und überall seine Augen und Ohren, ist immer aufmerksam. Wie wäre es, wenn wir beide schnell noch einen Tee trinken gehen, ich lade Sie ein. Dann können wir in aller Ruhe reden»

Timotheo Knight schluckte trocken. Er schien bei dem Gedanken mit ihr alleine zu sein nervös zu werden, hatte er etwa Angst vor ihr? Sein Kopf zuckte noch einmal herum, ein schneller Blick über seine Schulter, dann erwiderte er: «Haben Sie schon einmal etwas von den Letzten Walpurgern gehört? Wir denken, dass er ein Mitglied dieser Organisation war.» Es klang als hätte er einfach irgendein Geheimnis entblösst, das erstbeste, das ihm durch den Kopf gegangen war, um sie ruhig zu stellen, denn im gleichen Moment schien er ein wenig zu bereuen, was er gesagt hatte. 

Und trotzdem fing es in Tuppences Kopf an zu rattern. Die Letzten Walpurger? Sie hatte schon einmal etwas von diesem Namen gehört. Aber wo war das gewesen? Dann fiel es ihr ein. Wir kämpfen im Moment gegen verschiedene Gruppierungen. Grindelwald, die deutschen Nationalsozialisten und die Letzten Walpurger sind nur ein paar davon. Rosalia de Vautart hatte das letzte Woche zu ihr gesagt. Warum hatte sie diesem Satz in dem Moment nicht mehr Bedeutung beigemessen? Mr. Knight schien zu bemerken, dass er ihr etwas zum Nachdenken gegeben hatte und wollte sich bereits zum Disapparieren abwenden, als Tuppence nach seiner Schulter griff. In diesem Moment passierten mehrere Dinge gleichzeitig. 

Tuppence spürte, wie sich die Welt um sie herum rasend schnell drehte. In dem Moment wo ihre Füsse wieder den Boden berührten, verloren sie ihn auch schon wieder als sie vom Schutzzauber des Auroren weggestossen wurde, einige Meter nach hinten flog und unsanft auf den harten Pflastersteinen landete. Tuppence keuchte auf, als ihr der Aufprall die Luft aus den Lungen presste, dann versuchte sie sich zu sammeln. Alles noch heile? Erst im zweiten Moment überkam sie der Schock, dass sie gerade Seit-an-Seit-Appariert war. Sie apparierte sonst nie, hatte noch nicht einmal das Diplom der bestandenen Prüfung, da sie immer durchgefallen war. 

In diesem Moment stand auch schon ein wütender Mr. Knight über ihr. «Haben Sie versucht mich anzugreifen?», zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Tuppence meinte dennoch einen Hauch Überraschung in seiner Stimme wahrzunehmen, die sich vor allem durch das schnelle Heben und Senken seines Brustkorbs bemerkbar machte. 

«Nein, natürlich nicht…», stammelte sie, zu sehr ausser Atem um wirklich entrüstet über seine Abwehr zu wirken. 

«Aber Sie können doch nicht einfach einen Auror anfassen! Wir sind darauf trainiert, auf den kleinsten Angriff zu reagieren! Ich hätte Sie ernsthaft verletzten können. Sind sie verletzt?», fügte er da auch schon besorgt hinzu.

«Nein, alles in Ordnung glaube ich…», murmelte Tuppence, wenig überzeugend. Dann fügte sie hinzu: «Ähh, wo sind wir hier eigentlich?» 

Timotheo Knight seufzte kurze auf: «Das ist die Stadt St. David’s. In Wales. Ich wohne hier in der Nähe.»

Tuppence war versucht die Augen zu verdrehen. Na super, da brachte dieser Kerl sie einfach ungewollt ans andere Ende des Landes! Mal ganz davon abgesehen, dass es nicht ungefährlich war so weit auf einmal zu apparieren! Und dann auch noch mit unfreiwilligen Begleitern!

«Apparieren Sie immer so waghalsig?» hörte sie sich da auch schon fragen. Halt den Mund Tuppence! Wenn du ihn zu sehr ärgerst wird er dir gar nichts mehr verraten. 

«Nein, normalerweise reise ich in Etappen. Aber … ähm, sie haben mich aus dem Konzept gebracht…», schloss er dann nach einer kurzen Pause. Es fiel ihm offensichtlich schwer das einzugestehen. Dann fügte er hinzu: «Kann ich sie noch irgendwohin begleiten? Nach Hause oder so? Es ist nicht sicher um diese Uhrzeit für eine Dame wie Sie. Natürlich nur, wenn Sie gestatten, Miss St. Claire!»

Tuppence überlegte einen kurzen Moment. Es war nicht ihr Plan gewesen hier zu landen. Aber andererseits? Wäre es nicht die perfekte Gelegenheit ihrer Tante einen Überraschungsbesuch abzustatten? Mal davon abgesehen könnte sie vielleicht ein paar Leute hier interviewen, eine Art Reportage vom Lande sozusagen. Und sie könnte so besser an Timotheo Knight dranbleiben. Ausserdem, wie konnte sie heute Nacht noch zurück nach London kommen? Apparieren konnte sie nicht alleine. Sie würde einen Portschlüssel nehmen müssen und wer weiss, ob es in diesem Nest überhaupt eine regelmässige Reise nach London gab. Und mal davon abgesehen, was wartete schon in der Winkelgasse auf sie ausser ihr karges Zimmer im tropfenden Kessel?

«Gibt es hier einen Portschlüssel nach London?», fragte sie trotzdem noch vorsichtig. 

«Nein, man muss sich einen bestellen, wenn man ihn braucht. Das wird allerdings nicht vor morgen klappen», antwortete er. 

«Sie apparieren nicht?» rutschte ihm dann aber doch noch heraus. Tuppence schüttelte nur vage den Kopf. Timotheo Knight seufzte. «Ich kann Ihnen morgen einen besorgen. Für heute Nacht brauchen Sie eine Unterkunft.»

Er überlegte einen Moment, dann fuhr er fort: «Wenn Sie möchten, werde ich Sie zu meinen Eltern begleiten. Die haben ein Gästezimmer und sie könnten dort sicher nächtigen. Ich hoffe es bereitet Ihnen nicht zu viel Unannehmlichkeiten?»

Tuppence, zuerst genervt die Augen verdrehend, sah, wie der junge Mann errötete. Selbst in der Dunkelheit der Gasse hatte er etwas von einer Tomate an sich, wie sie mit leichter Überlegenheit feststellte. Schnell wandte sich Mr. Knight ab als er ihren Blick bemerkte und deutete ihr ihm zu folgen. Auch wenn der Abend anders verlaufen war, als Tuppence erwartet hatte, war sie doch hochzufrieden mit sich. 

Irgendetwas sagte ihr, dass dieser schüchterne Mann noch hilfreich sein könnte.  

 

-



Kleine Schweisstropfen lagen ihm auf dem Gesicht wie Tau auf Sommergras. Er atmete flach und angestrengt und seine geschlossenen Augen zuckten ab und zu, als würde er schlecht träumen. Besorgt legte Amelia ihrem Sohn die Hand auf die Stirn. Viel zu warm, wärmer noch als letzte Woche. Seit gestern Sonntagabend war das Fieber kontinuierlich gestiegen und Amelia gingen langsam die Ideen aus, was sie noch machen konnte. 

Sie hatte warme und kalte Wickel gemacht. Sie hatte ihn in ihr eigenes Bett gelegt und warm zugedeckt. Sie hatte Tees und stärkende Suppen gekocht, aber es war kaum möglich, Charlie irgendetwas einzuflössen, denn er drehte hartnäckig den Kopf weg, wenn sie es versuchte und verweigerte jegliche Nahrung oder Flüssigkeit. Das war es, was Amelia im Moment am meisten Sorgen machte. Ein bisschen krank sein, das war eine Sache. Aber dass er nichts mehr zu sich nahm, bereitete ihr ein unangenehmes Gefühl. Was sollte sie nur tun? Was würde Isaac tun?

In diesem Moment, als sie gerade das Zimmer verlassen wollte, um neue kalte Wickel für Charlies Stirn zu holen, hörte sie ihren Sohn aufstöhnen. Sofort eilte Amelia an das Bett und schaute, ob auch alles in Ordnung war. Sie spürte wie heisse Tränen ihr Gesicht herunterliefen, aber sie war zu beschäftigt ihren Sohn zu trösten um sie wegzuwischen. 

«Schschsch, alles ist gut, alles wird wieder gut, mein Schatz. Ich bin da, ich pass auf dich auch. Gleich wird es besser.» Und als hätte eine geheimnisvolle Macht ihre Worte gehört, schien sich Charlie wirklich zu beruhigen, bis er erschöpft und schläfrig in ihren Armen lag. Schnell versuchte sich Amelia ein Bild von der Situation zu machen. Sie brauchte Hilfe, noch heute. Wie spät war es? Kurz nach acht am Abend. Die Apotheke war auf jeden Fall schon längst geschlossen. Dort würde sie wohl niemanden mehr vorfinden. Vielleicht war noch einer der Kräuterkundler im Garten. 

Sie zog sich schnell ihren Wintermantel über das Nachthemd, dann packte sie Charlie, wickelte ihn sicher in seine Decke ein und trug ihn die Treppe hinunter. Schnell schnappte sie sich noch ihren Zauberstab, den sie vorhin auf dem Küchentisch vergessen hatte. Dann trat sie durch die Eingangstür hinaus in die eisig kalte Nacht, umklammerte ihr Kind noch fester und drehte sich auf der Stelle. 

 

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Sie hatte eigentlich schon geschlafen. Doch mitten in der Nacht war sie aufgewacht. Ob es das Heulen des Windes gewesen war, dass klang, wie ein verwundetes Tier? Oder doch ihr kratziger Hals, der nach frischem Wasser verlangte? Sie wusste es nicht. Jedenfalls hatte Eliza ihren Zauberstab genommen und war vorsichtig die knarzige Treppe zur Küche heruntergestiegen. Ihre nackten Füsse froren etwas, als sie das eiskalte Holz berührten. Das Feuer in der Küche glimmte nur noch ein wenig, nicht genug, um den ganzen Raum aufzuheizen. Die roten Kohlen warfen zusammen mit dem gelblichen Licht ihres Zauberstabes unwirklich scheinende Schatten auf die Wände, die sich mit jedem Schritt, den sie tat, bewegten und veränderten, wie unheimliche Geister. Als würde das Haus sie fragen, was sie hier tat, warum sie unbefugterweise herumschlich. 

Eliza versuchte sich zusammenzureissen, goss sich ein Glas Wasser aus einem Krug ein und genoss die herrliche Kühle, die sich in ihrem Hals ausbreitete. Ja, vermutlich hatte sie der Durst geweckt. Sie setzte sich auf einen der alten Küchenstühle, die mit dünnen Storchenbeinen um den Tisch standen. Am Anfang hatte Eliza immer Angst gehabt, dass sie zerbrechen würden, sobald sie Platz nahm. Doch jetzt, vier Tage nachdem sie in St. David’s angekommen war, machte sie sich schon kaum mehr Gedanken darüber. 

Stattdessen sinnierte sie über die Ereignisse der letzten Tage nach. War es wirklich schon drei Tage her, dass Bo seinen letzten Anfall gehabt hatte? Das waren an sich erfreuliche Neuigkeiten, doch Eliza spürte keine Erleichterung. Zum einen, weil sie wusste, dass, je länger die Anfälle ausblieben, sie desto heftiger zurückkommen würden. Zum anderen, weil der letzte Anfall unter Zeugenschaft von Mrs. Thompson stattgefunden hatte. Eliza wusste nichts über diese Frau, ob sie verschwiegen oder eine Klatschtante war, ob man ihr trauen konnte oder ob sie das Ministerium informieren würde. Denn vor allem letzteres könnte dramatische Konsequenzen haben. Eliza spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete. 

Das schlimmste war, dass sie im Moment nichts über Mrs. Thompson herausfinden konnte. Sie hatte sogar schon überlegt, Ollivander zu fragen, aber der würde sie nur mürrisch anschauen und dann aus seiner Werkstatt werfen. Und andere Leute kannte sie nicht. Das musste sich ändern. Und im selben Moment wusste Eliza, dass sie unmöglich Freundschaften schliessen konnte. Nicht jetzt, wo sie jeden Tag Gefahr liefen, enttarnt zu werden, fortgejagt zu werden, dem Ministerium vorgestellt zu werden. 

Einen Augenblick sass Eliza einfach nur still da, regungslos wie eine Marmorstatue. Völlig versunken in ihren Gedanken. Dann klirrte es leise. Zuerst dachte sie, sie hätte sich das nur eingebildet. Doch im nächsten Moment knarrte die Decke über ihr, ganz leise, kaum wahrnehmbar. Und doch hatte sie es gehört. Eliza blickte an die Decke, als könnte sie dadurch in der Dunkelheit mehr Informationen gewinnen. Es knarrte wieder. Da war jemand. Wahrscheinlich nur Ollivander oder ihr Bruder. Aber dann ächzte das Holz noch einmal. Und was noch viel beunruhigender war: das Knarren schien aus der Ecke zu kommen, in der ihr Zimmer lag.   

 

-





Amelia schlug hart mit den Füssen voran auf dem eisigen Boden auf, ihren Sohn dicht an sich gedrückt. Sie war eigentlich nicht schlecht im apparieren, auch wenn sie nie Hogwarts besucht hatte. Und doch vermied sie es, mit ihrem Sohn zu apparieren. Zu gross war die Angst, dass er zersplintert werden könnte. Doch dieses Mal hatte es keinen anderen Ausweg gegeben, sie hätte zu Fuss mindestens eine halbe Stunde gebraucht, wenn nicht länger. Die Kälte stach Amelia so eisig ins Gesicht, dass sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Zu gleich fühlte sie eine Welle der Erleichterung über sich rollen. Da in der Hütte in der Mitte des Kräutergartens war ein Licht!

Schnell hastete sie, etwas taumelnd unter der Last ihres Kindes und schlitternd auf dem eisigen Boden, auf das Hoffnung versprechende Leuchten zu. Mit zitternden Fingern klopfte Amelia hart gegen die hölzerne Tür. Es dauerte einen Moment, einen langen Moment, sodass sie schon dachte, es käme keiner mehr. Doch dann öffnete sich die Tür und ein Schwall angenehm warmer Luft strömte Amelia ins Gesicht und das helle Licht blendete sie. Kurz nahm sie den Duft von Pfefferminztee wahr, dann blinzelte sie und erkannte, dass vor ihr ein junger Mann stand. 

Er war kaum älter als sie, grossgewachsen und etwas hager, mit lockigem hellbraunem Haar und einer Brille, die er sich nun nervös höher auf die Nase schob. 

«Was kann ich für Sie tun?», fragte er, anscheinend überrascht, um diese Uhrzeit noch jemanden hier draussen anzutreffen. 

Schnell antwortete Amelia mit bibbernden Lippen: «Mein Name ist Amelia Thompson. Das hier ist mein kleiner Charlie. Er ist krank. Es geht ihm nicht gut. Bitte, helfen Sie mir!»

Die letzten Worte waren immer dringlicher herausgekommen. Der junge Mann zögerte einen Moment, dann trat er mit einem gemurmelten «Nicholas Pierce, sehr erfreut Mrs. Thompson» zur Seite und liess sie in die einladende Wärme. 

 

-



Nate hatte Glück im Unglück gehabt. Natürlich war es eine Schande, dass er seinen Zauberstab, das Erbstück seines Vaters, verloren hatte. Andererseits, hatte er sich je etwas aus seinem Vater gemacht? Nicht wirklich. Sei’s drum, dachte er sich. Doch was ein grosses Glück gewesen war, war die Tatsache, dass seine Handschuhe und seine Stiefel noch ihren Dienst taten, auch wenn der Stab, der sie einst verzaubert hatte, erloschen war. 

Die Kleidungsstücke waren seine eigene Idee gewesen, auf die er unheimlich stolz war. Er hatte über die Leder-Handschuhe einen starken Alohomora-Zauber gelegt, sodass sie, zumindest Muggeltüren, unauffällig und lautlos öffnen konnten. Die Stiefel dagegen, derbe Lederschuhe mit abgetragenen Sohlen, waren mit einem Unauffälligkeitszauber belegt, wodurch er, ohne Spuren zu hinterlassen, durch die Wohnungen und Häuser anderer Leute schleichen konnte. Sehr praktisch, wenn Schnee lag oder es regnete, da er so keine Pfützen auf den Holzdielen hinterliess.

Nun war der perfekte Zeitpunkt. Die schmale Sichel des zunehmenden Mondes warf kaum ein Licht auf die Küstenlandschaft. Es war eine stürmige Nacht, die meisten Menschen würden tief und fest in ihren Träumen versunken sein und der Klang des Windes war eine zusätzliche Tarnung. Und es war kurz vor Mitternacht, seine liebste Zeit. Ja, heute würde nichts schief gehen. Kurz legte sich der Schatten der Erinnerung an ein kleines Mädchen, das wach in seinem Bett stand und ihn anstarrte über seine Gedanken, dann war er auch schon wieder weg, wie fortgeweht. Es würde klappen. Es musste! Nathaniel wagte sich gar nicht auszumalen, was wäre, wenn er scheiterte. 

Nate hüllte sich in seinen abgetragenen schwarzen Wollmantel. Den mit den vielen Taschen und noch mehr geheimen, in den Saum eingenähten Verstecken. Wie gemacht für einen Dieb. Wobei er sich ja viel mehr als Weiterverwerter als als Räuber sah. Er schnürte seine Schuhe fest und streifte die Handschuhe über. Wann hatte er zuletzt, als er noch einen Zauberstab besass, seine Schuhe mit den Händen geschlossen? Er wusste es nicht mehr. Auf einen Hut verzichtete er. Es gab niemandem, vor dem er das Gesicht verhüllen musste und Nate besass ohnehin nur ein einziges, ziemlich schäbiges Modell. 

Anschliessend hatte er die Tür seiner Hütte sorgfältig geschlossen. Eigentlich war es sinnlos, denn ohne Magie konnte er sein Domizil kaum vor Zauberern oder Hexen schützen. Und doch gab es ihm ein beruhigendes Gefühl, die Tür fest ins Schloss zu ziehen, den Messingschlüssel dreimal im Schloss zu drehen und anschliessend noch einmal kräftig gegen die Tür zu stossen um zu schauen, ob sie auch wirklich zu war. Dann brach er auf. Es war ein recht langer Fussmarsch nach St. David’s aber sein Ziel lag nicht im Stadtinneren, sondern etwas ausserhalb, gleich am Waldrand. 

Auch wenn er wusste, dass seine Schuhe keine Fussabdrücke im Schnee hinterliessen, schlich er sich vorsichtig an das einsame Haus heran. Es gab ein paar karge Bäume, die um das Gebäude verteilt standen, ausserdem Ranken von einer Pflanze, die Nate nicht kannte. Perfekt! Daran konnte er bis zu einem der oberen Fenster hochklettern. Aus Beobachtungen der letzten Monate wusste er, dass Ollivander auf der Nordseite des Hauses schlief, seine Werkstatt dagegen schien unter dem Dach zu sein, denn von dort hörte man ihn oft tagsüber bis spätabends durch das offene Fenster schimpfen und fluchen und werkeln. 

Natürlich hatte Nate das Haus von Ollivander ausgespäht, auch bevor er seinen Zauberstab verloren hatte. Er hatte jedes Haus in St. David’s genaustens untersucht, penibel viel Zeit darauf verwendet, die Gewohnheiten der Bewohner kennen zu lernen und zu ergründen, was es in dem jeweiligen Haus wohl im Übermass geben könnte. Nun war er bereit. Natürlich wäre es logisch gewesen mit seinen Handschuhen einfach die Haustüre zu öffnen. Jetzt war dies aber ein magisches Haus und somit war besondere Vorsicht geboten. Von seinen Auskundschaftungen her wusste er, dass die Pflanzen, die über der Haustüre wuchsen sehr feindlich gegenüber Eindringlingen waren. Aus diesem Grund hatte er sich entschieden einen anderen Weg in das Haus zu versuchen. Vorsichtig kletterte er die Ranken bis zu einem Fenster im Obergeschoss herauf. Das Scharnier schien vereist zu sein, doch das würde seine Handschuhe nicht daran hindern, das Fenster zu öffnen. Und kaum hatte man sich’s versehen, stand Nathaniel auch schon in dem Raum.

Dort wartete eine Überraschung auf ihn. Er hatte erwartet, dass der Raum leer oder spärlich möbliert sein würde. Doch was er hier sah, machte ihn zum ersten Mal an diesem Abend nervös. Auf dem Stuhl lagen Kleider, anscheinend die einer Dame. Auf der Truhe am Fussende des Bettes lag ein geöffneter Koffer, mit einigen Habseligkeiten darin. Und auf dem kleinen Tischchen mit den Storchenbeinen, neben dem Bett, stand ein gerahmtes Bild einer kleinen Familie, offenbar Eltern mit ihren drei Kindern. Und keiner der Personen auf der Photographie sah Ollivander auch nur im Ansatz ähnlich. Wer waren diese Leute? Wem gehörten die Dinge in diesem Raum? Nate musste es herausfinden.

Mit leisen Schritten tat er einen weiteren Schritt in den Raum. Ein leichtes Knarren war zu hören, als seine Stiefel die Bodenplanken berührten. Da, in dem Koffer, lag eine Börse. Schnell nahm Nate sie an sich und öffnete sie. Entgegen kamen ihm eine Handvoll Münzen. Im spärlichen Licht, das von draussen hereinschien, waren sie kaum zu erkennen, doch Nate war sich sicher, dass er noch nie solches Geld in der Hand gehabt hatte. Grösse und Gewicht stimmten einfach nicht mit der ihm vertrauten Währung überein und wenn es eines gab, mit dem sich ein Dieb auskannte, dann war es Geld. Da blitzen auf einem der Taler ein paar Buchstaben auf: «Deutsche Reichsmark» konnte er entziffern. Das war kein Englisch. Das Wort «Deutsch» kannte er und es war ein Wort, dass in Grossbritannien dieser Tage nur mit Ablehnung und Verachtung ausgesprochen wurde. Warum hatte Ollivander Geld des Deutschen Reiches in seinem Haus?

Schnell durchwühlte Nate die Geldbörse nach mehr Informationen. Zwei Ausweise fielen ihm in die Hände. Der eine gehörte einem Robert Goldstein Jr., geboren am 23. Dezember 1930. Soweit so unauffällig, einige Leute in St. David’s hatten Kinder aufgenommen. Warum nicht auch Garrick Ollivander? Doch der zweite Ausweis war sehr viel interessanter. Er gehörte einer Elise Goldstein, geboren 1921, ausgestellt, genau wie der erste Ausweis, durch die Magische Deutsche Reichskanzlei, versehen mit einem grossen J in einem Stern. War das nicht das Zeichen der Juden? Allein die Nationalität der beiden war ungewöhnlich, was sollten zwei deutsche Kinder im britischen Kinderschutzprogramm machen? Was aber viel aufregender war: diese Elise musste laut Ausweisdokument bereits achtzehn Jahre alt sein. 

Durften nicht nur Jugendliche bis siebzehn Jahre die Städte verlassen? In diesem Moment fiel ihm ein letztes Dokument ins Auge. Es waren Ausweise, ausgestellt durch das Zaubereiministerium des Vereinigten Königreiches, auf diese zwei Kinder, allerdings stand bei «Eliza Goldstein» als Geburtsdatum nun der 16. August 1922 und als Geburtsort Warschau, nicht Funkenau! Sie hatte ihr Geburtsdatum und ihre Nationalität gefälscht! Warum? Nur um in Sicherheit zu kommen? Ein gewagtes Unterfangen, stand auf Dokumentenfälschung doch Gefängnisstrafe!

Nate grübelte noch einen kurzen Augenblick, dann riss ihn das Windheulen aus seinen Gedanken und er entschied, dass er Wichtigeres zu tun hatte, als das Geheimnis dieser Gefälligkeits-Erschleicherin zu lüften. Beiläufig, fast unbewusst schob er trotzdem den originalen Pass des Mädchens in eine seiner vielen Manteltaschen. Wer weiss, wofür der mal noch nützlich sein konnte. Jetzt brauchte er einen neuen Zauberstab und am ehesten vermutete er diesen im Dachstock. Mit leisen Schritten lief er vom Fussendes des schmalen Bettes bis zur Tür, öffnete diese fast lautlos, und in diesem Moment traf ihn fast der Schlag.

 

-



Eliza war sich zu hundert Prozent sicher gewesen, dass da jemand in ihrem Zimmer war. Aus diesem Grund hatte sie ihren Zauberstab ganz fest in der Hand gehalten und hatte die Treppe mit einem Silencio-Zauber belegt. Dann war sie leise in Richtung ihrer Kammer geschlichen. In dem Moment allerdings, in dem sie die Tür aufstossen wollte, öffnete sie bereits jemand von innen! Vor Schreck machte Eliza einen Satz zurück, dann fing sie sich und richtete todesmutig ihren Haselstab auf den Eindringling. 

Sie erwartete alles Mögliche. Dass der junge dunkelhaarige Mann sie angreifen würde. Dass er seinen Zauberstab zücken und sie in eine Feldmaus verwandeln würde. Dass er sich umdrehen und fliehen würde. Aber nicht, dass er einfach die Arme hob und kampflos aufgab. War das eine Falle? Sie wusste es nicht. Zur Sicherheit sagte sie mit leiser, aber erstaunlich fester Stimme «Halt!», als könnte sie ihn rein verbal stoppen von was auch immer er gerade vorgehabt hatte. 

«Ich bewege mich gar nicht», sagte der junge Mann, der, wie Eliza nun feststellte, fast schon unverschämt gut aussah, mit seinen hohen Wangenknochen und den schmalen, langfingrigen Händen, die er immer noch über den Kopf hielt. Kurz überlegte sie, ob sie schreien sollte, damit Ollivander kam. Aber dann entschied sie, dass sie die Situation eigentlich auch alleine ganz gut im Griff hatte.

«Runter, in die Küche», zischte sie deswegen, um nicht das ganze Haus, insbesondere Bo, aufzuwecken. «Sie gehen voran!» und mit einem Winken ihres Zauberstabes führte sie den Einbrecher die immer noch verzauberte Treppe herunter und zwang ihn, sich auf einen der Storchenstühle zu setzen. In dem Moment kam ihr die unbehagliche Vermutung, dass der Mann ein Unwiss sein könnte. Er hatte nicht einmal ansatzweise versucht, einen Zauberstab zu ziehen. Also besass er vielleicht keinen. Was, wenn sie gerade einem Unwiss ihren Zauberstab gezeigt hatte? Dann hätte sie ein wirklich grosses Problem! Andererseits, wie hätte ein Unwiss in ein magisches Haus eindringen können? Ollivander schützte sein Hab und Gut doch sicher? Diese Frage beunruhigte sie so sehr, dass es aus ihr herausplatzte: «Sind Sie ein Unwiss?»

Der andere brach in leises, wohlklingendes Gelächter aus. «Ob ich ein … was bin?»

Sie wurde unwirsch: «Nicht-magisch! Gehören Sie zu denen, die nichts wissen? Oder zu der magischen Gemeinschaft?»

«Ach so», antwortete er darauf. «Nein, nein. Ich bin kein Muggel. Ich bin ein Zauberer. Und du bist offenbar nicht von hier. Aber anscheinend nennt man Nicht-magische Leute in deinem Land … wie war das? Unwiss?» 

Während er redete, schien er absolut entspannt und sorglos. Warum? Sie hatte ihn auf frischer Tat ertappt! Sie konnte ihn ins Gefängnis bringen! Was gab ihm so viel Sicherheit? Was wollte er überhaupt hier?

«Was haben Sie hier gesucht?»

Er schien einen Moment zu zögern. Doch dann antwortete er: «Ich brauche einen neuen Zauberstab. Mein eigener ist durch einen unerfreulichen Zwischenfall zerbrochen und ich habe kein Geld, einen neuen zu kaufen.»

Was er sagte, schien Sinn zu machen. Er sah tatsächlich etwas ärmlich aus, hager, mit löchrigen Schuhen und einem abgetragenen dunklen Umhang. Das war ja alles schön und gut, aber das er einfach hier einstieg und sich nahm, wonach ihm gelüstete, war ja wohl unerhört!

«Sie können nicht einfach herkommen und tun und lassen was Sie wollen!», wies sie ihn da auch schon zurecht. 

«Ach ja? Kann ich nicht? Für dich selbst gelten dann wohl andere Regeln, oder, Fräulein?» 

Eliza erstarrte. Er konnte doch nicht…? Sie musste wissen, was er herausgefunden hatte. «Was meinen Sie damit?»

«Das weisst du ganz genau», sagte er gefährlich leise. «Du hast gelogen, um hier in Sicherheit zu kommen. Darauf stehen hohe Strafen!» Er wartete einen Moment um sie diese Information verdauen zu lassen. Dann fuhr er fort: «Ich sage dir, was wir machen werden: Du wirst dich ganz ruhig verhalten und ein bisschen hier warten. Ich gehe hoch und suche mir einen Zauberstab aus. Wenn du wieder in deine Kammer gehst, bin ich schon längst über alle Berge und du tust so, als hättest du mich noch nie gesehen. Dafür», und nun grinste er süffisant, «wird niemand dein kleines Geheimnis erfahren.»

In Elizas Kopf ratterte es, schlimmer als in einer Textilfabrik. Dann hörte sie sich selbst sagen: «Nein. Das geht nicht. Das ist nicht richtig.» Er erstarrte, blickte sie an. Schnell fuhr sie fort: «Ich weiss noch nicht wie. Aber ich werde dir einen Zauberstab beschaffen. Ganz legal.»

Er sah ihr tief in die Augen, als versuchte er zu ergründen, ob er ihr trauen konnte oder nicht, ob es weise war nachzugeben oder auf seinem Plan zu beharren. Dann sagte er: «In Ordnung, Elise. Oder lieber Eliza? Wir haben jetzt einen Vertrag. Du hältst dich besser daran.» Und mit diesen Worten schwang er sich elegant vom Stuhl, schritt zur Tür, drehte sich noch einmal um, um ihr ein charmantes Lächeln zu schenken, und mit einem leisen «Gute Nacht!» verschwand er durch die Tür. 

Zurück blieb nur Eliza, die im Luftzug durch die offene Tür fröstelte und sich fragte, worauf im Himmel sie sich da eingelassen hatte.

PLACES

London

 

St. David's

Timotheos Haus

Amelias Haus

Ollivanders Haus

Kräutergarten

HISTORY

8./9. Januar 1940

Montag/Dienstag

"Seekrieg: Umgebaute Wellington-Bomber, ausgestattet mit einem Magnetring zur Explosion von Magnetminen, machen erste erfolgreiche Tiefflug-Einsätze über der Nordsee "

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