Troye Sivan - Bloom
"Blooming Stories"

Schon seit Stunden war Flora wach, sie hatte das Gefühl, gar nicht richtig eingeschlafen zu sein. Eigentlich schlief sie immer gut, wenn sie tagsüber so viel gearbeitet hatte wie gestern, doch letzte Nacht hatte sie einfach keine Ruhe gefunden. Zuerst hatte sie sich noch von einer Seite auf die andere gedreht und versucht auf der durchgelegenen Federmatratze eine bequeme Position zu finden. Doch als die schmale Mondsichel schon fast am Untergehen gewesen war, hatte sie schliesslich seufzend ihren Zauberstab entzündet, sich ein Buch und eine Rolle Pergament geschnappt und sich ein paar Notizen aufgeschrieben.
Sie hatte es sich in dem ausgeblichenen Cordsessel bequem gemacht, der wohl vor langer Zeit mal weinrot gewesen war, aber jetzt eher eine hellrote Farbe aufwies. Während sie ihrer Feder die Worte diktierte, durchstöberte sie einen kiloschweren Folianten nach Material für ihren nächsten Aufsatz. Wobei, dachte sie mit einem verbitterten Lächeln, es war ja gar nicht ihr Aufsatz, Flora Griffins, sondern Edward Blooms.
Als die ersten lachsroten Streifen am Himmel erschienen und lange Schatten durch das Zimmer glitten, brannten ihre Augen von dem dunklen Licht und ihre Oberarme schmerzten von dem schweren Band über Heilpflanzen. Stöhnend rappelte sie sich auf und zog sich an, dann beschloss sie einen Tee zu machen. Vielleicht war ihr Grossvater ja auch schon wach? In letzter Zeit wanderte er oft unruhig frühmorgens durch das Haus, als wäre er auf der Suche nach etwas. Oder jemandem. Vor kurzem hatte er sich sogar in den Garten verirrt, nur bekleidet mit einem hellblauen Nachthemd und barfuss. Als Flora ihn schliesslich gefunden hatte, waren seinen Hände eiskalt und seine Lippen blau gewesen.
Doch als sie heute die staubige Treppe herunterstieg und über den ausgetretenen Holzboden in die kleine Wohnküche schlich, entdeckte sie den alten Mann schlafend in seinem Lieblingssessel vor der Feuerstelle, nur seine Hand ruhte auf der Armlehne des schon lange verwaisten Sessels neben ihm. So friedlich hatte er schon lange nicht mehr ausgesehen und Flora verzichtete auf ihren Tee um ihn in seiner Ruhe nicht zu stören.
Stattdessen zog sie ihm nur die Wolldecke, die ihm vom Schoss gerutscht war wieder über die Schultern, gab ihm einen federleichten Kuss auf die von Altersflecken übersähte Glatze und verliess leise das Haus.
Ihr war klar, dass sie die erste bei der Arbeit sein würde, aber die hämischen Kommentare der anderen waren ihr egal. Schon lange hatte sie sich in ihre eigene kleine Welt zurückgezogen, war taub geworden gegen böse Worte und regungslos gegenüber Gemeinheiten.
Es war ein eisiger aber trotzdem schöner Morgen, weswegen Flora beschloss, die zwei Meilen zum Kräutergarten zu laufen. Da das Haus des Magnus Griffin am Dorfrand lag, schritt sie schon bald durch absolute Einsamkeit, nur begleitet von den klagenden Schreien der Möwen und dem Geräusch der gegen die Klippen schlagenden Wellen.
Auch wenn eine kalte Briese wehte, genoss Flora die Ruhe und Abgeschiedenheit. Sie war schon immer eher eine Einzelgängerin gewesen, eine Aussenseiterin, die sich in keine Schublade stecken liess und irgendwie anders als die anderen war.
Der matschige Pfad verwandelte sich in einen gepflasterten Weg, als die Strasse über den grauen Fluss, afon llwyd, führte. Die kleine Brücke, die schon seit Menschengedenken bestand und aus grobem Schiefer gebaut war, war glatt und rutschig, sodass Flora sich an der verwitterten Brüstung festhielt. In der Nacht hatte es wieder geschneit und eine dünne Eisdecke lag über den Feldern. Besorgt überlegte Flora, wie es wohl ihren armen Pflänzchen ging.
Jetzt ging langsam die Sonne auf und auch wenn noch einzelne Wolken schwer am Himmel hingen, versprach es ein schöner Tag zu werden. Flora kannte sich damit aus, sie lag selten falsch mit ihren Vorahnungen das Wetter betreffend.
Schliesslich kam sie am Garten an, wo die Kräuterkundler verschiedene Heil- und Nutzpflanzen anbauten, um sie schliesslich an die magische und nichtmagische Dorfgemeinschaft zu verkaufen. Normalerweise verkehrten Magier ja nicht mit Muggeln, aber in diesem Fall machten sie eine Ausnahme, denn Pflanzenkunde war keine brotbringende Kunst und die Forscher konnten jede Münze gebrauchen, ob Sickel oder Pfund.
Das eiserne Tor, das den Zugang zum Reservat ermöglichte war durch den Frost der letzten Nacht zugefroren, weswegen Flora es mit einem leichten Antippen ihres Zauberstabes auftauen musste. Anschliessend ging sie zuerst in die kleine Hütte in der Mitte des Gartens, in dem sie ihre Kräuter verkauften, wo sich aber auch eine kleine Wohnküche befand, in der sich die Kräuterkundler aufwärmen konnten oder auch vor langen Nachtschichten ein Nickerchen machten.
Im Inneren war es dämmrig und der Geruch von kaltem Staub stieg ihr in die Nase. Schnell entfachte Flora magisch ein Feuer und stellte für sich und ihre Kollegen einen Kessel Wasser auf, um mit selbstgesammelten Kräutern einen Tee zu brauen. Anschliessend wusch sie mit einem weiteren Schlenker ihres Stabes die Tassen ab, die ihre Kollegen gestern nur noch faul in den Ausguss gestellt hatten.
Natürlich ärgerte sie sich darüber, trotzdem hätte sie sich niemals beschwert. Nicht etwa, weil es die Angelegenheit nicht wert war, sondern eher, weil sie keinen Konflikt provozieren wollte. Zudem war sie ohnehin schon die einzige Frau im Team und nicht wenige waren der Meinung, dass das ohnehin ihre gottgewollte Aufgabe wäre.
Als ihr Tee durchgezogen und der Laden in vorzeigbarem Zustand war, nahm sie ihre Tasse mit dem angeschlagenen Rand und verliess die Hütte. Sie wollte nachschauen, ob ihre Schösslinge die letzte Nacht überlebt hatten. Bei ihrem Beet angekommen, fegte sie den Schnee mit einer flüssigen Zauberstabbewegung beiseite und lugte vorsichtig unter das Laub, dass ihre Pflanzen vor dem Frost schützen sollte. «Geht es euch gut, meine Kleinen?» fragte sie und bückte sich über die Kräuter. Natürlich antworteten sie nicht, dennoch schien alles in Ordnung zu sein. Schnell bedeckte sie die Keimlinge wieder, bevor sie noch einen Zug bekamen.
Als sie sich wieder aufrichtete erblickte sie im Vorgarten des Häuschens, das ganz in der Nähe des Kräutergartens stand, ein Mädchen. Es war das Haus des komischen Ollivander, eines Irren, der Leute verfluchte, wenn sie seinem Haus zu nahekamen und ihnen Beschimpfungen hinterher schrie. Sie hatte nicht gewusst, dass dort auch eine junge Frau lebte und sie hatte dieses Mädchen auch noch nie sonst wo im Dorf gesehen. Es war eine schlanke Person, die kaum weibliche Kurven aufwies, sondern fast wie ein Junge gewirkt hätte, wäre da nicht das lange Haar gewesen, dass sie offen trug. Zudem war sie in ein hellblaues Kleid gekleidet, über dem sie keinen Mantel trug. Sie musste doch entsetzlich frieren? Während sie die andere beobachtete, keimten Erinnerungen in ihr herauf.
Es ist ein heisser Sommertag. Sie haben die Jacken ihrer Schuluniformen ausgezogen, ihre Krawatten gelockert und die Schuhe und Socken abgestreift, um mit den nackten Füssen durch das kühle Nass des Schwarzen Sees zu waten. Sie spürt, wie sie ihren Blick nicht abwenden kann von den weiblichen Rundungen der anderen Hexe, die sich unter der verschwitzten weissen Bluse deutlich abzeichnen.
«Komm Flora, es ist herrlich erfrischend!» reisst Charlotte sie aus ihren Tagträumen. Mühsam löst sie ihren Blick von den schlanken glatten Beinen ihrer besten Freundin und streckt vorsichtig ihre Zehen in Richtung Wasser aus.
«Nun hab dich nicht so» ruft Charlotte und spritzt ihr mit ihren Füssen etwas Wasser entgegen. Das kann Flora natürlich nicht auf sich sitzen lassen und spritzt zurück. Kreischend hält sich ihre Freundin die Hände vor das Gesicht. Ups, sie hat wohl etwas zu fest zurückgeschlagen. Charlottes Oberteil ist nass geworden und man sieht nun deutlich die Umrisse eines weissen Büstenhalters mit hellblauem Spitzenbesatz. Anstatt beschämt oder verärgert zu reagieren lacht Charlotte und Flora fällt mit ein. Mit einem kurzen Wischen ihres Zauberstabes trocknet das Mädchen ihre Bluse und tut so als wäre nichts gewesen. Doch Flora bekommt die Erinnerung an die zarten Brustwarzen, die sich durch den nassen Stoff abzeichneten nicht mehr aus ihrem Kopf.
«Entschuldigung, ich hätte eine Frage.»
Erschrocken zuckte Flora zusammen und ihr Blick, eben noch im Nirgendwo, richtete sich auf eine junge Dame, nicht viel älter als sie selbst, die direkt vor ihr stand. Sie war in einen dicken Winterumhang mit schwarzem Kaninchenfellkragen gehüllt, trug eine gestrickte Wollmütze, unter der eine Fülle an dunklen Haaren hervorquoll und wollene Fäustlinge. An ihrer Hand hing ein kleiner Junge, ebenso warm eingekleidet wie die Frau und quengelte, dass sie ihn auf den Arm nehmen solle.
«Pardon, was haben Sie gesagt?» stammelte Flora errötend.
«Ich wollte Sie fragen, ob sie etwas gegen Husten und Fieber für meinen Sohn hätten. Er ist seit heute Morgen etwas kränklich und ich habe nichts mehr daheim.»
Flora, in Gedanken immer noch in weiter Ferne, brauchte einen Moment um klarer im Kopf zu werden.
«Mmmh, wie alt ist Ihr Kleiner denn?» fragte Flora. Dadurch, dass sie wenig mit kleinen Kindern zu tun hatte, war sie sehr schlecht darin, deren Alter zu schätzen.
«Er wird dieses Jahr fünf. Die Hebamme hatte mir damals gesagt, dass Pfefferminze nicht für kleine Kinder geeignet sei, sonst hätte ich ihm davon gegeben.»
«Ja, Kinder sollten erst ab etwa vier Jahren Pfefferminze bekommen, wenn Sie ihm also ab und zu einen Minztee machen, sollte das kein Problem sein. Ich würde ansonsten ausserdem Fencheltee empfehlen oder einen Aufguss aus getrockneten Beeren und Äpfeln. Ich kann Ihnen zudem Zwiebelsirup verkaufen. Dann haben wir eine Kräutermischung mit Kamillen, die sich bei Husten sehr bewährt hat. Sie lösen die Blüten in einem Kessel heissen Wassers und lassen ihn damit inhalieren», erklärte Flora, völlig in ihrem Element aufgehend.
«Falls er fiebert, können Sie kalte Wickel ausprobieren, aber nur, wenn er warme Beine und Füsse hat. Der Wickel sollte auch nicht eiskalt, sondern nur kühl sein. Sie könnten ihn auch baden, einfach kein heisses Wasser, sondern nur warmes verwenden. Und was bei den Leuten sehr beliebt ist, ist Lindenblüten- oder Holunderblütentee, das unterstützt das Schwitzen.»
Zufrieden mit ihrem Vortrag blickte Flora die Dame an. Diese schien leicht überfordert ob der Fülle an Informationen.
«Ähh, ja, dann nehme ich doch den Lindenblütentee, wenn Sie denn welchen da haben und etwas von dem Zwiebelsirup. Ach ja, und eine Unze Kamillenblüten zum Inhalieren.»
Flora drehte sich um und führte die junge Mutter in die Hütte, um ihr das gewünschte herauszusuchen. Als sie noch einmal über ihre Schulter zum dem kleinen Haus in der Ferne blickte, war das andere Mädchen, das ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen konnte, verschwunden.
Magnus Griffin
Charles Thompson
5. Januar 1940
Freitag
Großbritannien: Der populäre Kriegsminister Hore-Belisha wird durch Opposition reaktionärer Generäle, angeführt von Lord Gort (Kommandeur des britischen Expeditionskorps), zum Rücktritt gezwungen. Er wird ersetzt durch Oliver Stanley. Lord Macmillan, der Informations-Minister wird durch Sir John Reith, bisher Direktor der BBC, abgelöst.