Lady Gaga - Million Reasons
"Of Wands and Wishes"

Amelia war erleichtert. Es war mittlerweile fast drei Wochen her, dass Charlie krank gewesen war und nun schien er endlich wieder vollkommen auf dem Damm zu sein. Er spielte wieder normal und war aufgeweckt wie eh und je. Den halben Morgen hatte Amelia gebacken und es hatte ihr erstaunlich viel Spass gemacht.
Sie blickte aus dem Küchenfenster. Es schien der erste Frühlingstag zu sein, auch wenn es mit Anfang Februar eigentlich noch zu früh dafür war. Aber die Sonne schien und trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt wirkte es nach den letzten eisigen Wochen regelrecht warm. Amelia merkte wie das schöne Wetter sich auf ihre Stimmung niederschlug. Sie fühlte sich fast schon … hoffnungsfroh?
«Komm, Charlie», rief Amelia ihren Sohn, «wir machen einen Spaziergang.»
Sie half Charlie, sich anzuziehen, Schal und Mütze, damit er nicht fror, keine Handschuhe, damit er nicht schwitzte. Genau richtig, damit er bloss nicht wieder krank wurde. Dann verstaute sie vorsichtshalber ihren Zauberstab in der Handtasche. Den Kuchen in einen Weidenkorb gepackt, eingeschlagen in ein Geschirrtuch, machten sich die beiden auf den Weg.
Als sie auf dem einsamen Feldweg ankamen, blickte sich Amelia um. Keine Muggel in Sichtweite. Also zog sie ihren Zauberstab hervor und liess kleine Schneetiere aus dem glitzernden Weiss aufstehen. Charlie jauchzte vor Freude. Eigentlich war sie nie gut in Verwandlung gewesen, aber irgendwie hatte sie schon immer ein Talent dafür gehabt, aus Gegenständen lebendige Gestalten zu erschaffen. Dass keines der Tiere einem realen glich, schien ihren Sohn nicht zu stören. Der Hund hatte nur drei Beine, das Pferd zwei Köpfe und dem Elefanten fehlte ein Ohr, aber Charlie sprang mit den Eisfiguren um die Wette, als wären sie schon immer beste Freunde gewesen.
Bald darauf kamen sie am Garten der Kräuterkundler an. Schnell liess Amelia die Schneetiere schmelzen, immerhin verstiess sie streng genommen gegen das Geheimhaltungsabkommen. Die beiden betraten den Garten und klopften an die verblichene Holztür der kleinen Hütte. Dieses Mal öffnete nicht der nette junge Herr vom letzten Mal, wie hatte er noch geheissen? Es war die junge Frau, die ihre Nase neugierig in die Kälte streckte und fragte, wie sie behilflich sein könne.
«Amelia Thompson. Ihr Kollege hatte mir letztens sehr geholfen, als mein Sohn so krank war. Ich wollte mich bedanken. Ach ja, und Kuchen haben wir auch für Sie dabei.»
Beim letzten Satz leuchteten die Augen der jungen Dame auf.
«Kommen Sie rein, ist ja doch recht kalt. Kuchen, haben Sie gesagt?»
Sie bot Amelia einen bequemen Platz in einer Sitzecke in der Nähe des wärmenden Kamins an und während diese Charlie auf ihren Schoss hob, schenkte sie ihr eine Tasse Tee ein, aus «selbst angebauten Kräutern».
Schliesslich setzte Flora Griffin sich zu Amelia und blickte sehnsüchtig auf den Weidenkorb, der zwischen ihnen auf dem Tisch stand.
Lächelnd bot Amelia an: «Nehmen Sie sich doch ein Stück!»
Als Miss Griffin gerade ein Messer heraufbeschwor und sich über den Kuchen hermachen wollte, klopfte es an der Tür.
Entschuldigend lächelte die Kräuterkundlerin, stand auf und öffnete die Tür. Amelia konnte nicht sehen wer draussen stand, aber kurz darauf stand eine weitere Dame im Raum. Sie kam Amelia seltsam bekannt vor. Aber erst als der kleine Junge hinter ihrem Rücken hervorlugte, wusste sie, woher sie sie kannte. Einen Moment lang überlegte sie, was sie sagen sollte, aber bevor das Schweigen unangenehm werden konnte, sprach der Junge: «Guten Tag, Mrs. Thompson. Wie geht es dir, Charlie? Bist du wieder gesund?»
Und keine fünf Minuten später sassen die beiden Jungen in einer Ecke der Hütte und spielten mit einem Zinnsoldaten, den der Junge aus seiner Jackentasche gezogen hatte. Unsicher lächelte Amelia das Mädchen an, sie hatte ihren Namen vergessen.
«Guten Morgen, Mrs. Thompson. Vielleicht erinnern Sie sich an uns. Wir haben uns vor einigen Wochen zufällig getroffen, auf dem Feld, als wir einen Schneemann gebaut hatten. Eliza Goldstein»
Wie hätte Amelia das jemals vergessen können? Noch immer hatte sie das Bild des zuckenden Jungen lebhaft vor Augen.
«Ja, ich erinnere mich. Wie geht es Ihnen und Ihrem Bruder?»
«Gut», antwortete Miss Goldstein vage.
«Ah, Sie kennen einander?», unterbrach in diesem Moment Miss Griffin. Amelia und die junge Eliza nickten unbestimmt. Dann fuhr die Kräuterkundlerin fort: «Na dann, ich denke wir haben noch einen Kuchen anzuschneiden!»
Und während sie alle Kuchen mit Rosinen mampften, unterhielten sie sich über diverse Belanglosigkeiten. Immer wieder warf Amelia Miss Goldstein unsichere Blicke über den Tisch zu, aber diese schien es nicht zu bemerken. Sollte sie etwas sagen? Aber was? Und wusste Miss Griffin mehr? Die beiden schienen sich immerhin zu kennen.
Amelia sah hinüber zum kleinen Bo Goldstein. Er wirkte friedlich, sorglos, aber auch bleich und mager für sein Alter. Aber sie wusste es besser. Sie wusste mittlerweile, was mit dem Jungen los war. Sie hatte darüber in der Zeitung gelesen. Das Ministerium hatte erst vor kurzem einen Erlass durchgebracht, dass sich alle Seher, Legilimentiker und Metamorphmagiker registrieren lassen mussten.
An der Art, wie Miss Goldstein die Erkrankung ihres Bruders geheim zu halten schien, vermutete Amelia, dass dieser Junge nicht registriert war. War das das Problem? Versteckten sich diese Kinder vor der Macht der Regierung?
In diesem Moment sprach Eliza Goldstein ein anderes Thema an, anscheinend der Grund, weswegen sie hergekommen war: «Flora, vielen Dank für die festliche Bewirtung und Mrs. Thompson, Ihr Kuchen war himmlisch! Aber ich wollte da noch über etwas mit dir reden, Flora. Weisst du noch, über was wir letztes Mal gesprochen hatten? Über mein Problem mit dem …»
Weiter kam sie nicht denn Flora, die mitten im Bissen innegehalten hatte, sprang auf, schüttelte den Kopf, wie um zu bedeuten «nicht hier» und zog die junge Eliza am Arm hoch. Dann schluckte sie, nickte entschuldigend zu Amelia und sagte lächelnd: «Entschuldigen Sie uns doch einen Moment.»
Die beiden verzogen sich in eine Ecke der Hütte und da Amelia trotz des beengten Raums nichts hören konnte, war sie sich sicher, dass die beiden eine Art Zauber über sich gelegt hatten, damit sie nicht lauschen konnte. Ein bisschen beleidigt war Amelia ja schon, sie war nun wirklich nicht als Tratschtante bekannt! Aber immerhin kannten die beiden Frauen sie nicht wirklich gut und da war es irgendwie verständlich, dass sie ihr nicht auf Anhieb vertrauten. Und trotzdem hätte Amelia eine Menge gegeben, um Mäuschen spielen zu können.
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Flora war total erschrocken, als sie bemerkte, worüber ihre unangekündigte Besucherin eigentlich reden wollte. Schnell hatte sie sie zur Seite genommen und einen Heimlichkeitszauber über sie gelegt, denn man wusste ja nie, wem man trauen konnte.
Anschliessend fuhr sie Eliza Goldstein an: «Wie kannst du das einfach so herumposaunen? Du weisst schon, dass man zum Zauberstab bauen eine Lizenz braucht, die du sicher nicht hast?»
Eliza schien ein wenig geknickt zu sein: «Das tut mir leid, das war mir nicht bewusst. Aber hör doch, ich habe das Holz und den Kern, alles was jetzt noch fehlt, ist die beiden Zutaten zusammenzubringen.»
Flora konnte nicht umhin, sie bewundernd anzuschauen. «Wie hast du das geschafft?»
«Das Holz war schwieriger, ich musste mich mit einer Horde kleiner Holzgeister herumschlagen.»
«Bowtruckles», nickte Flora. «Hattest du denn keine Holzläuse dabei?»
Eliza schüttelte den Kopf.
«Aber das lernt doch jedes Kind an Hogwarts!»
«Ich war nie in Hogwarts», murmelte Eliza.
In diesem Moment wurde Flora klar, dass sie einiges an Aufholbedarf mit Eliza Goldstein hatte, aber dafür war jetzt keine Zeit.
«Und der Kern?», fragte sie stattdessen.
«Das war überraschend einfach. Weisst du, was ein Thestral ist? Ich hatte bis jetzt auch nur in Büchern davon gelesen, aber hier habe ich zum ersten Mal einen gesehen. Es hat ein Schweifhaar verloren, als ich…»
Flora bemerkte noch nicht einmal, dass Eliza ihren Satz nicht beendet hatte.
«Sehr gut, dann hast du also den Kern und das Holz. Wo liegt dann das Problem?»
Etwas entmutigt antwortete Eliza: «Dass ich nicht weiss, wie ich die Stücke zusammenfügen soll.»
«Aber du lebst doch mit einem bekannten Zauberstabmacher unter einem Dach. Kann er nicht helfen?»
Doch Eliza Goldstein schüttelte nur den Kopf: «Ich denke, das wäre keine gute Idee. Er schien dem Einfall, einen Zauberstab zu bauen eher abgeneigt zu sein.»
«Dann musst du es selbst versuchen», sagte Flora, auf einmal voller Tatendrang. «Wie wäre es, wenn du nochmal die Bücher im Hause Ollivander studierst? Vielleicht findest du dort ja die richtige Information?»
Eliza nickte vage: «Das werde ich tun.»
Die junge Frau blickte leicht unsicher zu ihrem jüngeren Bruder. Auch Flora sah zu den spielenden Kindern. Sie wirkten friedlich, wie sie neben dem Kamin sassen und den Zinnsoldaten über den staubigen Boden marschieren liessen.
«Ich glaube ich sollte jetzt gehen», meinte Eliza.
«Sagst du mir Bescheid, ob du es geschafft hast?», fragte Flora.
«Natürlich. Wünsch’ mir Glück!»
Und mit diesen Worten rief sie Robert zu sich, nahm ihren Mantel, verabschiedete sich mit der gebührenden Höflichkeit von Mrs. Thompson und trat nach draussen. Zurück blieb nur der Duft nach dunkler Wolle und Sandelholz, der Flora inzwischen so vertraut erschien.
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Eliza zog ihren Mantel enger zusammen. Es war kalt hier draussen, aber immerhin war der Weg zu Ollivanders Haus nicht lang. In diesem Moment öffnete sich die Hüttentür hinter ihr und jemand trat heraus. In der Erwartung Flora Griffin zu sehen, die ihr vielleicht noch einen Rat geben wollte, drehte sich Eliza um. Doch es war nicht die Kräuterkundlerin, es war die junge Mutter.
«Mrs. Thompson? Ich wusste nicht, dass Sie sich auch schon auf den Heimweg machen wollten.»
«Ich hatte gehofft, Sie noch einen Moment mit einer Frage behelligen zu dürfen.»
Eliza zögerte. Fragen bedeuteten die Gefahr der Enttarnung, wenn man nicht gut genug log. Trotzdem nickte sie.
«Erinnern Sie sich noch, wie wir uns vor etwa drei Wochen auf den Feldern begegnet sind? Ihrem Bruder schien nicht wohl zu sein.»
Das war so eine Untertreibung, dass Eliza fast aufgelacht hätte, wäre es nicht so traurig. Aber nun wusste sie definitiv in welche Richtung dieses Gespräch gehen würde. Etwas harsch fragte sie: «Wie kann ich Ihnen helfen, Mrs. Thompson?»
Diese zögerte einen Moment, als wäre sie nicht sicher, wie sie den nächsten Satz am besten formulieren sollte. Dann antwortete sie: «Ist Ihr Bruder ein Seher? Sind Sie deswegen auf der Flucht?»
Eliza erstarrte. Nie hatte sie damit gerechnet, dass diese Frau es so direkt aussprechen würde. Nie damit gerechnet, dass ihr Geheimnis bereits nach einem Monat auffliegen könnte. Sie sammelte sich, bereit, mit scharfen Worten diese Unverfrorenheit abzutun, da spürte sie, wie Bo sie an der Hand nahm und leicht zudrückte. Durch die dicke Wolle seiner Fäustlinge war die Berührung kaum zu spüren, aber Eliza nahm sie war und spürte sie in ihrem ganzen Körper wiederhallen.
Irgendwie spürte sie, dass diese Frau ihr nichts Böses wollte. Und immerhin hatte sie selbst die Verantwortung für ein Kind zu tragen, sie würde es verstehen. Doch was, wenn ihr Bauchgefühl, bzw. Bos Ahnung sie im Stich liess? Sie schluckte.
Dann sagte sie, von einer plötzlichen Ruhe ergriffen: «Ja. Das ist der Grund. Verschiedene Gruppierungen hatten es auf meinen Bruder abgesehen, aus verschiedenen Gründen. In Deutschland wurde er als sogenannter Kaputnix verfolgt, die Letzten Walpurger wollten ihn tot sehen. Aus diesem Grund sind wir zu unserer Tante nach London geflohen. Doch auch in Grossbritannien sind wir nicht sicher. Das Zaubereiministerium ist sehr interessiert an Magiern mit besonderen Fähigkeiten.»
Mrs. Thompson nickte nur. Dann erwiderte sie: «Vielen Dank, dass Sie sich mir anvertraut haben. Ich werde Ihr Geheimnis hüten, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Und wer weiss, vielleicht kann ich Ihnen ja sogar helfen?»
Die Erleichterung fiel Eliza wie ein Stein vom Herzen. Bo hatte Recht gehabt, wie immer. Sie hatte das Richtige getan.
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Septimus schwang gefühlvoll seinen Zauberstab.
«Schau her, Nellie. Für Aguamenti muss man den Zauberstab weit schwingen.»
Nellie schwang ihren eigenen Stab und eine kleine Fontäne sprudelte aus dem Eichenholz. Erfreut klatschte sie in die Hände, woraufhin kleine violette Funken aus der Spitze stoben. Erschrocken stoppte sie und blickte unsicher zu ihm, doch er lachte nur und sagte ruhig: «Vorsicht. Ein Zauberstab gibt einem viel Macht, aber sein Träger muss auch die Verantwortung für sein Handeln übernehmen.»
Es war Freitagabend, eine lange Woche lag hinter Septimus und natürlich hatte er auch heute keinen guten Fall für seine Bewerbung gefunden. Aber jetzt war erstmal Wochenende, er hatte keinen Dienst und das wollte er geniessen, indem er sich an Nellies Fortschritten erfreute.
Als nächstes wollte er ihr zeigen, wie man Käfer in Knöpfe verwandelte. Er wusste, dass dies etwas schwieriger war, aber er hatte vollstes Vertrauen in sie und wusste, dass sie es schaffen konnte. Nellie war eine fleissige Schülerin. Sie erledigte nicht nur ihre Aufgaben im Haushalt zu seiner grössten Zufriedenheit, sie schien auch während er bei der Arbeit war weiter zu üben, denn nur so konnte er sich ihre Fortschritte erklären.
Natürlich, man merkte ihr an, dass sie keine Schulbildung genossen hatte und aus einfachen Verhältnissen kam. Eine besonders schnelle Schülerin war sie definitiv nicht. Aber ihr schlichtes Gemüt machte sie durch einen besonderen Tatendrang wieder wett.
Zudem hatte Septimus bemerkt, dass sie seit einiger Zeit sich nicht mehr ganz so häufig bekreuzigte, wenn er vor ihr zauberte und der innere Konflikt in ihr schien sich fürs erste aufgelöst zu haben.
Nellie schien mit dem Verwandlungszauber noch einige Schwierigkeiten zu haben, wie Septimus feststellte, während er ihr zusah. Vielleicht konnte ihr sein altes Lehrbuch helfen.
«Warte einen Moment, Nellie. Ich habe da etwas für dich.»
Überrascht und freudig sah sie ihm nach, während er zu dem grossen Bücherregal in der Stube ging und einen schmalen Lederband hervornahm. Als er ihn ihr zeigte, blickte sie ihn nur verwirrt an.
«Verwandlung für Anfänger, ein sehr gutes Buch.»
Sie blickte immer noch etwas überfordert drein.
Sanft sagte Septimus: «Du kannst nicht lesen, oder?» Wie hatte ihm das die letzten vier Wochen entgehen könne, schalt er sich selbst.
«Nein, Master», antwortete sie beschämt und errötete.
Septimus überlegte einen kurzen Moment, aber eigentlich war die Sache klar.
«Setz dich Nellie, gleich hier neben mich. Wir werden die Zauberlektionen ein wenig pausieren und ich werde dir Lesen beibringen.»
Und während sie noch mehr errötete, diesmal anscheinend vor Freude, schlug Septimus das Buch auf der ersten Seite auf und fing an die Buchstaben einzeln zu erklären und die Silben zu buchstabieren.
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Tuppence war aufgeregt. Sie und Timotheo hatten erst gestern einen Plan geschmiedet und heute sollte er bereits in die Tat umgesetzt werden. Ihr war das alles ja ein wenig zu schnell gegangen, aber Theo hatte gesagt, sie solle nicht weiter zögern und irgendwo hatte er da Recht gehabt.
Nun sass sie also gespannt in der Küche der Familie Knight, liess sich mit Tee und kleinen Köstlichkeiten bedienen und knete ihre Hände unter dem Tisch, damit niemand sah, wie ihre Finger zitterten.
Timotheo sass an der anderen Seite des Tischs und warf ihr einen ermutigenden Blick zu. Das war das andere Problem. Er war so unglaublich nett zu ihr und sie war sich fast sicher, dass er dabei Hintergedanken hatte. Aber sie war nicht bereit für ihn. Im Gegenteil. Ihr Herz gehörte einem anderen, sie hatte sich einem Mann versprochen, der ebenso weit weg wie in Gefahr war.
Erst gestern hatte sie einen Brief von Joe erhalten, in dem er seine Liebe zu ihr bekundet hatte und ihr geschrieben hatte, wie sehr er wollte, dass sie sich wiedersehen würden. Sie wussten beide, wie verrückt es war. Tuppence hatte Joseph Baltimore in einer Spelunke in London kennengelernt, als sie Soldaten vor ihrem ersten Einsatz interviewte. Sie beide hatten sich am Ende des Abends in einem angeregten Gespräch wiedergefunden und als er sie nach Hause begleitet hatte, hatte sich das nicht nur gut angefühlt, sie hatte sogar zugelassen, dass er ihr einen sanften Kuss auf die Lippen drückte, bevor er sie alleine und verwirrt zurück liess.
Die beiden hatten sich wie wild lange, ausführliche Briefe geschrieben, in denen sie über ihre Liebe sprachen und dass sie heiraten wollten, wenn er aus dem Krieg zurückkam. Falls.
Tuppence war klar, dass das völlig unvernünftig war. Sie kannte Joe kaum und keiner konnte ihr sagen, ob sie beide ein gutes Paar abgeben würden. Aber es fühlte sich so gut an, etwas Verrücktes zu tun, einmal alle Vorsicht fallen zu lassen, einfach mal zu handeln, ohne vorher alle Schritte abzuwägen. Nicht einmal ihrer Mutter hatte sie davon erzählt. Es tat gut, wild zu sein. Und es hatte sich bis gestern auch so unglaublich richtig angefühlt.
Aber jetzt war da Timotheo Knight, der ihr half und so freundlich war. Der nicht ihren Geschmack Mann traf. Aber der da war, sich um sie kümmerte. Es tat gut, einmal umsorgt zu werden, jemanden zu haben, der einem sagt, dass alles gut wird, dass man nicht alleine ist. Es tat gut, sich wie ein kleines Kind im Schoss eines starken Mannes einzurollen, auch wenn Tuppence sonst immer so auf ihre Unabhängigkeit pochte, es genoss, eine starke, selbstständige Frau zu sein. Es tat gut, klein zu sein.
Aber wollte sie wirklich zulassen, dass dieser Mann in ihr diese Gefühle wachrief? Und falls nicht, durfte sie dann seine Gutmütigkeit, seine Hilfe annehmen, ohne dass er eine Gegenleistung dafür bekam?
In diesem Moment erklang eine krächzende Stimme, die «die ehrwertige Madam Prudence St. Claire» ankündigte. Und Tuppence traf eine Entscheidung. Sie würde das hier durchziehen. Und anschliessen das Gespräch mit Theo suchen. Ihm alles erzählen, von Joe und ihren Gefühlen für ihn. Dann konnte er selbst entscheiden, ob er ihre Freundschaft wollte oder ob ihm das nicht ausreichte. Doch insgeheim wusste sie, dass sie hoffte, dass er als Freund bei ihr bleiben würde. Sie hatte nicht gerade viele davon und sie mochte Theo, ob sie sich das eingestehen wollte oder nicht.
Die Tür öffnete sich mit einem dramatischen Schwung und hinein kam eine Frau, die sofort den Raum mit ihrer Ausstrahlung einnahm. Sie musste appariert oder gelaufen sein. Tuppence tippte auf ersteres, auch wenn sie es irgendwie nicht ganz zu der Erscheinung passen wollte.
Prudence St. Claire sah anders und doch genau so aus, wie Tuppence sie sich vorgestellt hatte. Sie wirkte grösser als ihre Mutter, was vielleicht auch an den hochgesteckten langen Haaren lag und sah, obwohl Tuppence wusste, dass sie ein ganzes Stück älter als ihre Mutter war, etwa gleich alt aus wie Marjorie. Ansonsten sah sie Tuppences Mutter erschreckend ähnlich.
Tup hatte den Eindruck eine reichere, grössere und elegantere Version ihrer Mutter vor sich zu haben. Sie war recht aufgetakelt, mit einem altrosa, bodenlangen Abendkleid, mehreren Perlenketten und einem weissen Fuchspelz um die Schultern, also in etwa so, wie Penny sie sich vorgestellt hatte. Doch auf ihrem Gesicht gab es keine Spur von Arroganz, nur ein warmes Lächeln für die Gastgeberin Mrs. Knight und viele Lachfalten um die Augen.
Prudence St. Claire begrüsste Catherine Knight mit einem angedeuteten Doppelküsschen auf die Wangen und einer sanften Umarmung. Dann bedankte sie sich überschwänglich für die Einladung zum Tee.
«Ach Catherine, meine Liebe, du weisst doch, wie wenig ich deinen Leckereien widerstehen kann.» Dabei klopfte sie sich fröhlich auf das kleine Bäuchlein, das verriet, dass sie keine junge Frau mehr war und offenbar gerne ass. Sie war nicht dick, aber alles an ihr, ihr gesamtes Gehabe, verriet, dass dies eine Frau war, die gerne lebte.
In diesem Moment erblickte sie Tuppence und Timotheo. Sie sprach zuerst den Sohn ihrer Gastgeberin an.
«Timotheo, schau dich an! Was für ein stattlicher Mann du bist! Es ist Ewigkeiten her, dass ich dich gesehen habe! Ich meine, das letzte Mal, dass wir uns getroffen haben, war, als du noch in der Aurorenschule warst?»
Timotheo nickte höflich, offensichtlich leicht eingeschüchtert durch die Präsenz von Madam St. Claire. Dann wandte er sich Tuppence zu, doch bevor er sie vorstellen konnte, unterbrach ihn Prudence: «Magst du mir nicht deine junge Freundin vorstellen?»
Erst in diesem Moment blickte Prudence St. Claire Tuppence wirklich ins Gesicht. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter nicht übermässig ähnelte, aber das, was Prudence sah, reichte offensichtlich aus. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn erneut, nur um zu stammeln: «Wer ist das?»
Noch bevor Timotheo antworten konnte, wurde er wieder unterbrochen, dieses Mal von Tuppence. Sie war eine erwachsene Frau, sie konnte sich selbst vorstellen. Auch, wenn es gegen die gesellschaftlichen Regeln war.
«Mein Name ist Tuppence St. Claire, Ma’am. Ich bin die Tochter von Marjorie St. Claire.» Dann wartete sie einen Moment. «Ihrer Schwester», fügte sie sicherheitshalber noch hinzu.
«Ja, ich weiss natürlich, wer Sie sind», antwortete Prudence St. Claire. Dann starrte sie Tuppence lange Zeit einfach an, bis Catherine Knight sie ansprach: «Ich denke, das ist ein guter Moment für einen starken Earl Grey und ein paar Naschereien?»
Prudence St. Claire setzte sich ans Kopfende, gleich über Eck zu Tuppence und starrte sie immer noch an. Tuppence fing an sich unbehaglich zu fühlen. Was, wenn das alles eine schlechte Idee gewesen war? Was, wenn Prudence sich umentschieden hatte, keinen Kontakt mehr wollte? Oder nur Kontakt wollte, um ihr Gemeinheiten an den Kopf zu werfen?
Es war schliesslich Prudence, die das Wort als Erste ergriff. «Sie sehen Ihrer Mutter sehr ähnlich, Miss St. Claire. Sie haben ihre Augen und ihr Haar. Natürlich kenne ich Ihren Vater nicht, aber ich kann Marjorie klar und deutlich in Ihrem Gesicht erkennen.»
Bei der Erwähnung ihres Vaters zuckte Tuppence unmerklich zusammen. Dann riss sie sich zusammen und antwortete vorsichtig: «Sie können mich Tuppence nennen. Falls Sie möchten.»
In diesem Moment fing Prudence St. Claire an zu strahlen: «Fantastisch! Nenn mich Tante Prudence! Ich bin die ältere Schwester deiner Mutter, wie du bestimmt schon weisst. Die Geschichte und meine Eltern, deine Grosseltern, haben deiner Mutter viel Leid gebracht, aber ich bin jetzt hier, um all das ungeschehen zu machen!»
Tuppence schluckte leer. Sie war sich sicher, dass all die Jahre der Armut und der Traurigkeit nicht einfach so ungeschehen zu machen waren, aber sie schluckte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, herunter. Es war zwar gegen ihre Art, den Mund zu halten, wenn ihr die Worte im Hals brannten, aber sie wollte ihre neu gewonnene Tante nicht nach fünf Minuten vergraulen.
Und dann ergab sie sich dem Fragenschwall, denn Tante Prudence schien die mehr als zwanzig Jahre, die sie von Tuppences Leben verpasst hatte, noch an diesem Nachmittag aufholen zu wollen.
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Nervös legte sie die Teile auf den Küchentisch. Ollivander war oben in seiner Werkstatt unter dem Dach. Bo spielte ruhig neben ihr auf dem Boden und liess seinen Zinnsoldaten durch den Staub marschieren. Verärgert machte sich Eliza im Kopf eine Notiz, dass sie dringend den Boden fegen musste, denn Ollivander würde in zehn Jahren nicht darauf kommen.
Sie hatte den ganzen Tag überlegt, ob sie es tatsächlich durchziehen sollte. Einerseits war sie tieftraurig, dass Nate sich offenbar nachts mit anderen Frauen im Wald traf. Was auch immer er da mit der jungen Dame gemacht hatte. Andererseits hatte er immer noch ihren Pass als Beweis und konnte damit jede Menge Unheil anrichten. Aber eigentlich war die Entscheidung längst getroffen, das wusste sie.
Dann betrachtete sie ihren Schatz. Das Eichenholz hatte einen unwirklichen Schimmer im Kerzenlicht, dass die abendliche Dunkelheit in der Küche erhellte. Das Thestralhaar sah dagegen ganz unauffällig aus, wie normales schwarzes Pferdehaar. Aber wenn sie es berührte, war es ganz weich, wie Seide.
Ein letzter Blick zu Bo, er war immer noch beschäftigt. Ausserdem schien er keine Anstalten zu machen, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Hatte er es nicht in der Zukunft gesehen? Oder hielt er sie nicht auf, weil er gesehen hatte, dass sie Erfolg haben würde? Sie hoffte auf letzteres.
Mit neuem Mut atmete sie tief durch, dann zückte sie ihren eigenen Zauberstab und sprach laut und deutlich den Zauber, den sie in einem der Bücher gefunden hatte, die Ollivander überall herumliegen liess.
«Coniugat vos!»
Nichts passierte.
«Coniugat vos!», rief Eliza und wedelte heftig mit dem Zauberstab. Doch es passierte rein gar nichts. Dann spürte sie ein Beben. Das Holz bebte auf dem Tisch. Heftiger und heftiger, bis sie der ganze Tisch wackelte. Davon hatte im Buch nichts gestanden! Erschrocken machte Eliza einen Satz vom Tisch weg, die Augen fest auf das Stück Holz gerichtet.
Doch das Beben hörte nicht auf, im Gegenteil, es ergriff nun auch den Fussboden, wurde heftiger, bis die Tassen auf den Untertellern im Geschirrschrank klirrten, die Töpfe an den Wänden klapperten und Bücher aus den unordentlichen Wandregalen fielen.
«WAS GEHT HIER VOR SICH?», donnerte eine Stimme vom oberen Ende der Treppe.
Eliza zuckte zusammen. Ollivander stampfte die schmale Stiege in einem Tempo herab, die Eliza dem jungen Mann gar nicht zugetraut hätte. Schnell machte sie einen weiteren Schritt vom Tisch weg, aber natürlich war es offensichtlich, dass sie verantwortlich für das Chaos war.
«Finite Incatatem!», rief Ollivander und schwang seinen eigenen Zauberstab. Dann besah er sich die Unordnung. Das Geschirr hatte seinen Weg aus dem Schrank gefunden und lag zerbrochen am Boden. Die Bücher lagen ebenfalls am Boden, halb aufgeschlagen und einige Seiten wiesen Knicke auf. Nur die Töpfe hingen noch an den Wänden. In all dem Schlamassel sass Bo völlig unbeeindruckt da und dachte gar nicht daran, sein Spiel zu unterbrechen.
Ollivander wandte sich schnaubend vor Zorn Eliza zu.
«Woher hast du diesen Zauberspruch?», fragte er, aber bevor sie antworten konnte, beantwortete er die Frage selbst: «Wer hat dir Zauberstabkunde für Fortgeschrittene gegeben? Das ist keine Gute-Nacht-Geschichte für Kinder!»
Eliza schluckte, dann hob sie den Kopf: «Ich habe es mir selbst genommen. Ich wollte einen Zauberstab herstellen.»
«Ich dachte, wir hätten darüber gesprochen. Du kannst einen Zauberstab nicht einfach so bauen.»
Eliza nahm all ihren Mut zusammen, dann sagte sie: «Ich wollte dieses besondere Handwerk lernen. Aber Sie wollten es mir ja nicht beibringen…»
«Und sieh an, wohin uns das geführt hat», antwortete Garrick Ollivander, auf das Chaos deutend, aber es klang mehr resigniert als wütend. Er schien einen Moment mit sich zu ringen, dann warf er einen Blick auf den Tisch.
«Nun, deine Bestandteile sehen ja schon einmal recht ordentlich aus. Eichenholz, etwas rau, aber von schönem Glanz? Hast du den Stab von dem Eichenbaum im Wald, etwa eine halbe Meile von hier? Der mit den vielen Bowtruckles? Und was haben wir hier, Thestralhaar, mmmh? Nicht schlecht als Kern. Ungewöhnlich, denn viele Zauberer würden es als niemals wagen, einen solchen Zauberstab zu schwingen. Aber durchaus mächtig, auch wenn ich Einhornhaar bevorzuge.»
«Das war alles was ich bekommen konnte», murmelte Eliza kleinlaut.
«Ja, ja, ja», sagte Ollivander ungeduldig. «Aber Fakt ist und das habe ich dir schon einmal gesagt, ein Zauberstab will erweckt werden. Diesen hier hast du verärgert.»
«Wie kann man es dann wieder gut machen?», fragte Eliza, ihre Neugierde war geweckt.
«Ich zeige es dir. Bist du bereit, einen kleinen Schritt in die aufregende Welt der Zauberstabkunst zu wagen?»
«Ja, ich bin bereit», sagte Eliza mit fester Stimme. Hinter Ollivander sah sie Bo, immer noch versunken in sein Spiel, aber nun stolz lächelnd.
«Dann komm mit mir. Junge», sprach er Bo an, «mach keine Dummheiten, während ich deiner Schwester oben etwas zeige!»
Bo nickte eifrig. Dann marschierte Garrick Ollivander mit festem Schritt die Treppe hoch. Eliza beeilte sich, ihm hinterher zu kommen. Sie hatte die Werkstatt bisher nur einmal kurz gesehen, aber sie jetzt ganz offiziell betreten zu dürfen, fühlte sich für sie wie ein Ritterschlag an. Fasziniert blickte sie von links nach rechts und von rechts nach links, unschlüssig, wo sie zuerst hinschauen soll. Regale voll schmaler Schachteln türmten sich bis unter den Giebel, nur durch Magie konnten sie sich halten. Auf dem Tisch unter dem Fenster lagen sorgfältig nach Länge sortierte Haare und Federn und Hölzer in verschiedensten Farbtönen.
Eliza hätte sich gewünscht die kleinen Schachteln alle einzeln zu öffnen, die Schubladen des Schreibtischs aufzuziehen, um herauszufinden, was darin verborgen war. Sie wollte die Holzstäbe in ihren Händen fühlen, um zu sehen, wie sie ausbalanciert waren. Und sie wollte die Federn und Haare durch ihre Hände gleiten lassen um herauszufinden, ob sie so weich waren, wie sie aussahen.
Der Boden knarrte leise, als Eliza sich vorsichtig vorwagte. Ollivander warf bereits einen Blick zurück, ungeduldig schauend, wo sie blieb. Dann wischte er mit einer raschen Bewegung alles von seinem Tisch, dass es nur so klirrte und klapperte. Anschliessend legte er ihr Holz und das Thestralhaar vor sich auf die freigewordene Fläche.
«Wenn du einen Kern mit dem Holz verschmelzen lassen willst, reicht es nicht, die Zauberformel aufzusagen. Du musst den Charakter des Stabes vor dir sehen, das Temperament des Zauberers, der ihn schwingen soll. Du musst seine Zukunft vor dir sehen.»
Dann zog Ollivander seinen eigenen Stab aus seinem Ärmel und schwang ihn in kreisenden Bewegungen über den Bestandteilen auf dem Tisch. Gleichzeitig sprach er mit sanfter Stimme: «Coniugat vos. Coniugat vos!»
Und nach einigen Augenblicken bewegten sich Holz und Haar tatsächlich aufeinander zu, umwoben sich gegenseitig, verschmolzen bis sie schliesslich eins waren.
Eliza stand daneben, der Mund stand ihr offen.
«Na, was sagst du dazu?», fragte der Zauberstabmacher.
«Das war unglaublich, Mr. Ollivander!»
«Garrick. Unter Zauberstabbauern ist man Freund», antwortete er grosszügig. Sie lächelte glücklich. Offenbar steckte hinter diesem Griesgram ein ganz netter Mensch. Dann schob sich ein dringlicherer Punkt in den Vordergrund ihrer Gedanken. Sie würde Nate heute Nacht wiedersehen. Denn sie war sich sicher, dass er sofort kommen würde, wenn er hörte, dass sie einen Stab für ihn hatte. Einerseits wollte sie ihn wiedersehen. Ihn von der Ferne anschmachten und den Moment des Triumphes mit ihm geniessen. Andererseits war sie immer noch traurig über sein Verhalten im Wald, über die Art, wie er mit ihrem Herzen gespielt hatte. Nein, korrigierte sie sich selbst. Du hast mit dir spielen lassen. Sie raffte sich zusammen: «Jetzt muss ich nur noch Nate schreiben, dass der Zauberstab bereit ist!»
«Nate? Dieser Zauberstab ist für Nathaniel Stewart? Dem diebischen Nichtsnutz?»
«Vielleicht…irgendwie schon…?», antwortete Eliza unbehaglich.
Garrick grummelte etwas Unverständliches, dann sagte er: «Nun, du kannst es probieren, aber der Zauberstab sucht sich den Zauberer aus, nicht umgekehrt. Gut möglich, dass dieser ihm nicht passt.»
Eliza erstarrte. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Was, wenn all ihre Mühen am Ende umsonst gewesen waren? Laut sagte sie: «Er wird passen, ich weiss es.»
Dann eilte sie in ihre Kammer, schrieb eine knappe Notiz an Nate und schickte ihre Eule Mephisto gen Wald. Während sie dem Waldkauz nachblickte, nestelte sie unruhig an ihrer Halskette herum. Und was, wenn es nicht klappte und Nathaniel Garrick die Wahrheit sagte?
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Nate hatte einen ruhigen Abend gehabt. Bis auf einmal ein lautes Gekrächzte ausgebrochen war. Ein fremder Waldkauz hatte seine eigene Eule Forrest, ebenfalls ein Waldkauz, angegriffen. Beziehungsweise, war in Forrests Revier eingedrungen. Dies liess sich der ältere Kauz natürlich nicht gefallen und flatterte wild und abwehrend vor dem Eindringling herum. Dieser liess sich aber nicht beirren, täuschte links an, nur um dann rechts an Forrest vorbei zu fliegen. Der fremde Kauz landete auf Nates Fensterbank und als dieser das Fenster öffnete, um ihn hineinzulassen, krächzte Forrest empört.
«Sei still, alter Junge, dein Freund hier hat Post für mich.»
Vorbildlich brav hielt der kleine Waldkauz sein Bein mit der Schriftrolle ausgestreckt vor sich, damit Nate ihn von der Last befreien konnte. Dann schüttelte er sich, bedankte sich mit einem leichten Schnabelkniff bei Nate und flog durch das immer noch offene Fenster davon, begleitet von Forrests hämischen Schreien.
Aber Nate hatte wichtigeres zu tun, als den Streit der Waldvögel zu beachten. Dies war eine Nachricht von Eliza. Es war einige Tage her, dass er sie gesehen hatte und er war schon davon ausgegangen, dass er sich mit Septimus’ Zauberstab anfreunden müsse. Doch hier war er, der lang ersehnte Brief:
Nate,
Dein Zauberstab ist fertig, komm heute Abend vorbei und probiere ihn aus. Vergiss meinen Pass nicht.
Eliza
Die Nachricht machte Nate ein wenig stutzig, denn sie klang weitaus kühler als die anderen Nachrichten, die sie bis jetzt ausgetauscht hatten. Hatte er sie verärgert? Vermutlich war sie einfach froh, dass sie ihn endlich los war, dachte er grimmig.
Dann schnappte er sich seinen Mantel. Kurz überlegte er, ob er es riskieren konnte zu apparieren, aber das war ihm dann doch zu heiss. Was wenn der Pallisanderstab auf halbem Weg entschied, dass er keine Lust mehr auf die Reise hatte? Und so machte er sich auf den langen Fussmarsch durch den Wald in Richtung Ollivanders Haus.
Es war bereits fast Mitternacht, als er endlich ankam. Die Fenster im Erdgeschoss waren hell erleuchtet und das Haus sah, entgegen seiner Erfahrungen mit den Ranken am Eingang, fast schon einladend aus. Kurz überlegte er schmunzelnd, ob er den Eingang durch eines der Fenster wagen sollte, dann überlegte er es sich anders und klopfte stattdessen schlicht an die Tür.
Ollivander öffnete. Na prima, dachte sich Nate, das kann ja heiter werden.
«Bursche!», knurrte Garrick Ollivander, dann tauchte bereits Elizas Gesicht hinter dem jungen Mann auf.
«Komm rein, Nate», sagte sie kühl. Was hatte er falsch gemacht?
Unter den grimmigen Blicken des Hausherren schlich sich Nate möglichst unauffällig an ihm vorbei und folgte Eliza in die Küche. In einer Ecke spielte ein Junge mit einem Zinnsoldaten. Das musste das andere Kind sein, Elizas Bruder. Doch etwas lenkte Nates Blick auf sich. Dort lag er, dunkel glänzend und brandneu, auf dem Küchentisch. Sein Zauberstab. Er wollte schon einfach zugreifen, dann besann er sich seiner Kinderstube und fragte höflich: «Darf ich?», ohne jedoch irgendwen bestimmten dabei anzusehen. Eliza nickte gebannt.
Nate nahm den Zauberstab an sich. Doch noch bevor er ihn schwang wusste er, dass das nichts werden würde. Das Kribbeln fehlte, das Gefühl, eins mit dem Zauberstab zu sein. Dieser Zauberstab funktionierte vermutlich, auch wenn Nate keine Ahnung hatte, wie Eliza es vollbracht hatte, ihn herzustellen. Aber es war nicht Nates Zauberstab.
Er schwang ihn trotzdem, einfach um seiner Hoffnung eine letzte Chance zu geben. Ein paar Bücher flogen aus dem Regal, sonst passierte nichts. Frustriert warf er den Zauberstab zu Boden, von wo er abprallte und in die Richtung des Jungen rollte. Dieser warf einen neugierigen Blick auf das Stück Holz, das ebenso hübsch anzusehen wie unnütz war.
Nate war am Boden zerstört. Dies war seine letzte Hoffnung gewesen, seine letzte Gelegenheit doch noch an einen funktionierenden Stab zu kommen. Doch nun war alles vorbei. Deprimiert vergrub Nate sein Gesicht in seinen Händen. In diesem Moment spürte er warme Hände an seinen Schultern. Es war Eliza, die ihn vorsichtig drückte.
«Hör zu, wir kriegen das hin, in Ordnung?», sagte sie sanft und gar nicht mehr unterkühlt.
«Ich habe es dir doch gesagt, Eliza, der Zauberstab sucht sich den Zauberer aus! Und ein so schöner Zauberstab wie dieser würde niemals einen Taugenichts wie Nathaniel Stewart wählen.»
Nate war zu niedergeschlagen, um die Sticheleien des Mannes wahrzunehmen. In diesem Moment hörte er Eliza antworten: «Aber ein Talent wie deines, Garrick, hat doch sicher sogar einen für einen Nichtsnutz wie Nate einen passenden Stab.»
Hatte sie ihn gerade einen Nichtsnutz genannt? Nate wollte schon beleidigt antworten, als ihm Elizas List aufging. Er wartete stumm.
«Natürlich! Ein Meister wie ich hat für jede magische Hand den richtigen Stab, ich werde es dir beweisen!»
Und mit diesen Worten stürmte er die Treppe hinauf. Eliza bedeutete Nate zu warten. Keinen Augenblick später, kam der Zauberstabmacher wieder zurück, vor sich ein gutes Dutzend Schachteln schwebend. Zauberstabschachteln.
«Hier», sprach er Nate energisch an, «probier’ den hier aus. Bergahorn und Phönixfeder, 11 ½ Zoll, peitschend.»
Doch bevor Nate auch nur den Zauberstab schwingen konnte, rief Ollivander: «HALT! Der ist es nicht. Der hier, vielleicht, Eberesche und Einhornhaar, federnd.»
Doch als Nate ein wenig mit ihm wedelte, passierte rein gar nichts.
«Ollivander, ich glaube, der ist kaputt…», sagte Nate neckend.
«Papperlapapp! Mein Zauberstab und kaputt, der ist nagelneu! Hier, ich bezweifle, dass dir dieser Zauberstab passt, aber versuch ihn trotzdem mal. Fichte und Phönixfeder, 14 ¼ Zoll, federnd.»
Und in diesem Moment, in dem Augenblick, als Nate den Zauberstab anhob, spürte er es, das Gefühl, das er seit über einem Monat vermisst hatte. Das Gefühl, komplett zu sein. Er schwang den Zauberstab und ein Schauer an goldenen Sternen ergoss sich in der Küche. Eliza klatschte aufgeregt in die Hände.
Ollivander rief aus: «Ich glaub es nicht! Dieser Zauberstab hat mich Wochen an Arbeit gekostet und er wählt einen Flohsack wie dich, Nathaniel Stewart? Nun, dann soll es so sein!» Und er klopfte Nate gratulierend auf die Schulter.
In diesem Moment hörten sie lautes Vogelzwitschern vom anderen Ende der Küche. Der Junge hatte sich, während alle anderen abgelenkt waren, den zu Boden geworfenen Zauberstab genommen und damit gespielt. Was für ein ungezogenes Kind!
«Bo, hast du etwa diese Vögel herbeigezaubert?», fragte Eliza erstaunt und begeistert zugleich.
«Ja», antwortete der Junge schlicht!
«Tja, dann ist der Thestralstab wohl für den jungen Robert hier», meinte Ollivander jovial. «Du kannst deiner Schwester danken, dass sie dir so einen schönen Zauberstab gebaut hat. Und einen ganz besonderen dazu. Thestrale sind die Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Aber denk dran, in Grossbritannien darf man erst mit elf Jahren einen Zauberstab führen. Andererseits habe ich schon immer gerne Regeln gebrochen…»
«Ich weiss», antwortete der Junge. «Und ich wusste, dass du es schaffen würdest, Eli.»
Er sagte das mit einer Gewissheit, als hätte er es wirklich gewusst und nicht nur geahnt. Mit diesem Kind stimmte etwas nicht. Aber eigentlich interessierte es Nate in diesem Moment überhaupt nicht. Er hatte einen Zauberstab. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand seine rechte Hand zurückgegeben.
Und als Eliza ihn hinausbegleitete und Nate die schmale Mondsichel am Himmel betrachtete überkam ihn der unbändige Drang die junge Frau zu packen und ihr einen langen, sinnlichen Kuss zu geben. Doch als sich eine Wolke vor den Mond schob und einen Schatten auf Elizas Gesicht warf, war der Moment vorbei und Nate drehte sich um, um in der Dunkelheit nach Hause zu apparieren. Und erst als er bereits vor seiner Hütte stand und mit dem neuen Zauberstab einen magischen Spruch nach dem anderen abfeuerte, fiel ihm ein, dass er ihr ihren Pass nicht zurückgegeben hatte.
Amelias Haus
Kräutergarten
Septimus Haus
Haus der Familie Knight
Ollivanders Haus
Charles Thompson
Robert Goldstein Junior
Catherine Knight
Prudence St. Claire
Garrick Ollivander
2. Februar 1940
Freitag
Konferenz der Balkan-Entente in Belgrad: die neutralen Staaten Jugoslawien, Griechenland, Rumänien und Türkei verkünden gemeinsam ihr Interesse an einer Aufrechterhaltung des Friedens in Südosteuropa und erneuern ihr Bündnis.