Kris Kyle - Papa can you hear me?
"A new Life"

Als Nellie aus dem Zug stieg, bemerkte sie als erstes den faulig frischen Meersalzgeruch, der einem selbst hier, etwa sechseinhalb Meilen vom Meer entfernt, sofort auffiel. Es wehte eine steife Brise und winzige Schneeflocken fielen vom Himmel.
Während sie sich auf den Weg zum bereits wartenden Bus machte, wurde sie von einem Mädchen mit einem kleinen Jungen an der Hand überholt, die es offensichtlich eilig hatten. Rasch machte Nellie einen Schritt zur Seite, um ihnen den Weg frei zu machen, und senkte respektvoll den Blick, als die elegant gekleidete junge Frau vorbeilief.
So eine feine Dame, dachte sich Nellie etwas scheu, was wäre ich gerne so wie sie. Aber im nächsten Moment schalt sie sich als närrisch, dass sie zu einer so höher gestellten Frau aufblickte, wo sie doch nur eine einfache Magd war, immer Magd bleiben würde und nie etwas anderes sein könnte. Ausserdem, sagte sie sich in Gedanken, sollte ich dankbar sein mit dem, was mir der liebe Gott geschenkt hat und sie schickte ein kurzes Gebet gen Himmel.
In ihrer typischen eilsamen Art lief sie zielstrebig auf den Bus zu, wobei ihre abgetragenen Lederstiefel feine braune Abdrücke in der immer dichter werdenden Schneedecke auf der Strasse hinterliessen.
Madam Weasley hatte Nellie einen kleinen Lederbeutel mit kupfernen und ein paar silbrigen Münzen gegeben, ausserdem hatte sie sie zum Bahnhof gebracht und ihr ein Ticket der ersten Klasse für den Zug gekauft, für Nellie ein unverfrorener Luxus. Sie hatte sich richtig unwohl gefühlt, zwischen all den Leuten der Mittelschicht und Oberschicht auf den rot gepolsterten Bänken zu sitzen. Als hätte sie das Gefühl, man sähe ihr an, dass sie nicht hier hin gehörte. Und was, wenn die anderen spürten, dass sie anders, dass sie des Teufels war?
Nellie ging zum Bus, kaufte beim Fahrer ein Ticket für fünf Pence und stieg ein. Als sie auf einem der hinteren Sitze Platz genommen hatte, fing sie an sich zu entspannen. Sie hatte wahnsinnig Angst gehabt, dass etwas schiefgehen könnte. Dass sie den Bus nicht finden oder verpassen würde vielleicht. Dass ihr das Geld gestohlen werden würde. Das sie an der falschen Station aussteigen würde. Doch jetzt war alles okay. Der Busfahrer hatte ihr gesagt, dass er bis St. David’s fahren würde, was die Endhaltestelle war. Alles war gut.
Während der Bus sich tuckernd in Bewegung setzte, dachte Nellie über die letzten Tage nach. In der letzten Woche war eine Menge passiert. Sie dachte an Madam Enoch, die hoffentlich jetzt als Engel oben beim lieben Gott über sie wachte. Sie erinnerte sich daran, wie sie vom Sohn von Madam Enoch darüber aufgeklärt wurde, dass für sie ein Platz bei einer Madam Weasley in London vorgesehen war und man bereits ein Zugticket für sie in die Hauptstadt organisiert hatte.
Sie schmunzelte bei dem Gedanken daran, wie aufgeregt sie gewesen war, da sie als richtiges Landei mit dieser riesigen Stadt überhaupt nichts anfangen konnte. Zum Glück hatte Madam Weasleys Butler sie vom Bahnhof abgeholt, sie hätte nämlich keine Idee gehabt, wie sie alleine das Stadthaus der Weasleys finden sollte.
Gemächlich zockelte der Bus die holprige Strasse entlang, nur gelegentlich wich er einem grösseren Schlagloch aus um die Fahrt für die wenigen Passagiere angenehmer zu machen. Nellie blickte hinaus auf die graubraunen Wiesen, die langsam aber sicher unter einer immer dichter werdenden Schneedecke verschwanden.
Sie erinnerte sich, wie sie in der Eingangshalle von Arielle Weasley stand, peinlich berührt von all der Eleganz und geschmackvollen Pracht, die dieser Raum ausströmte, während sie selbst zwar in Sonntagskleidung, aber mit schneenassen Stiefeln vor ihrer zukünftigen Arbeitgeberin stand und ihr den Teppich volltropfte.
Doch die schien sich gar nicht daran zu stören, dass Nellie ihr den Perser ruinierte, sondern zog ihren Zauberstab aus dem Ärmel und liess mit einem sanften Schwung das matschige braune Wasser von Schuhen und Boden verschwinden. Nellie hatte beschämt zu Boden geschaut und hätte sich am liebsten bekreuzigt, traute sich aber vor ihrer neuen Herrin nicht. Madam Weasley war ganz anders als Madam Enoch gewesen, zielstrebiger, strenger und so … majestätisch? Aber gleichzeitig sehr verständnisvoll. Nellie hatte sich vorstellen und Madam Weasley ihre Empfehlungsschreiben aushändigen müssen.
Dann hatte Madam Weasley ihr eine Reihe Fragen gestellt. Die meisten konnte sie sehr gut mit ihrer knappen und etwas schüchternen Art beantworten. Doch dann hatte diese herrschaftliche Dame wissen wollen, welche Zauber Nellie am besten beherrsche. Und verschämt hatte Nellie eingestehen müssen, dass sie eigentlich lieber auf Zauberei verzichte. Madam Weasley hatte langsam genickt, als verstünde sie. Dann hatte sie Nellie über ihre künftigen Aufgaben aufgeklärt ohne weiter auf das Thema einzugehen.
Eigentlich war es kein Hexenwerk, wortwörtlich. Madam Weasley hatte einen Neffen. Ein junger Herr, ein Heiler war er sogar! Der wollte jetzt in sein Heimatdorf, St. David’s in Wales an der Küste, ziehen. Dafür hatte Madam Weasley ihm ein kleines Häuschen gekauft und jetzt brauchte er natürlich jemanden, der ihm den Haushalt führte, ein so feiner Herr konnte immerhin schlecht seine Socken selber waschen.
Ihre Pflichten würden es sein, die Handwerker, die kleinere Umbauten vornehmen würden, zu beaufsichtigen und sogar zu bezahlen, eine grosse Verantwortung! Dafür hatte Madam Weasley ihr auch ein kleines Geld mitgegeben, damit sie die nötigen Mittel hatte. Nellie war sehr positiv überrascht gewesen ob so viel Vertrauen, immerhin hatte diese elegante Lady sie eben erst kennengelernt. Im Stillen schickte sie ein kleines Dankesgebet gen Himmel zu ihrem Jesus, dem Herren und Madam Enoch, möge ihre Seele im Himmel weilen.
In einer Woche würde dann der junge Herr Weasley in das Häuschen ziehen. Zwar würde er den ganzen Tag arbeiten und manchmal auch nachts, aber Nellie machte das nichts aus. Im Gegenteil, es bedeutete, dass sie in Ruhe den ganzen Tag putzen und werken konnte wie sie wollte, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass sie jemanden störte oder sie jemand bemerkte. Denn genau das war es, wie sich das junge Mädchen am wohlsten fühlte, unsichtbar. Wie der junge Herr Weasley wohl sein würde?
Bestimmt war er gross gewachsen und sehr gutaussehend. Nellie hatte bisher nur wenig Ärzte kennengelernt, denn Gott sei Dank waren die Herrschaften, für die sie gearbeitet hatte meistens gesund gewesen. Die Heiler, die sie angetroffen hatte, waren strenge, hochgewachsene, furchteinflössende Gestalten gewesen, sehr altehrwürdig und weise. Sie hatten mit Worten gesprochen, die sie nicht verstand und mit respekteinflössender Stimme Wasser, warme Tücher und dieses oder jenes verlangt.
Und er war ein Zauberer. Das war es was Nellie gleichzeitig mit Schrecken und auch einer ketzerischen Neugierde erfüllte. Wie konnte einer mit einem Geschenk Gottes gesegnet und den Heilkräften mächtig und gleichzeitig vom Teufel verflucht sein? Sie dachte wieder an ihre alte Herrin. Madam Enoch hatte nie wie jemand gewirkt, der des Teufels war. Aber auch sie hatte diese… Mächte… gehabt. Hoffentlich war sie dafür nicht in die Hölle gekommen. Nellie schauderte und konzentrierte sich schnell wieder auf die vorbeiziehende Landschaft, als sie an die Qualen und Schrecken des ewigen Feuers dachte.
Draussen fiel der Schnee inzwischen in dichten Flocken vom Himmel. Die Felder waren mittlerweile komplett eingeschneit und der Himmel von einer dichten grauvioletten Wolkendecke verhüllt. Es würde wohl bald dunkel werden, immerhin war es bereits Nachmittag.
Nach einiger Zeit veränderte sich die Landschaft und mit einem Ruckeln fuhr der Bus von der mittlerweile matschig feuchten Landstrasse auf die gepflasterte Hauptstrasse von St. David’s auf. Kleine Hütten und Häuser standen in engen und manchmal auch windschiefen Reihen dicht an dicht. Im dämmrigen Zwielicht des frühen Abends waren sie alle graubraun, doch Nellie konnte erahnen, dass sie tagsüber auch in Rotbrauntönen leuchten würden. Es gab sogar Strassenlaternen, die zusammen mit den wenigen erleuchteten Fenstern ein goldgelbes Licht auf die zuckrigweisse Strasse warfen.
Mit einem lauten und langgezogenen Quietschen hielt der Bus auf dem Dorfplatz an. Nellie bedankte sich höflich bei dem Fahrer, dann stieg sie vorsichtig aus, um nicht auf der Eisschicht, die sich inzwischen auf dem unregelmässigen Pflasterstein gebildet hatte, auszurutschen. Mit wackeligen Schritten stakste das Mädchen vorsichtig voran, während ihre Schuhe bei jedem Schritt auf dem unberührten Schnee knirschende Geräusche von sich gaben.
Sie war noch nie hier gewesen, kannte St. David’s nicht, hatte aber eine Wegbeschreibung und zum Glück eine kleine Skizze bekommen. Nellie war froh gewesen, dass ihr die Zeichnung angeboten worden war, denn sie hätte sich zu sehr geschämt danach zu fragen, wäre aber wohl auch nicht in der Lage gewesen sich den Weg zu merken und eine Beschreibung durchzulesen wäre ihr erst recht verwehrt gewesen.
So zügig wie möglich stolperte sie voran, immer in Richtung Ziel. Das Häuschen lag etwas am Rande des Dorfes, wenn man der Hauptstrasse nach Westen folgte in einer kleinen Nebenstrasse. Sie fand es schliesslich auch durch Zufall und, da war sie schon ein bisschen stolz auf sich, auch durch eine Portion Cleverness. Es war das einzige Haus, dass in der inzwischen mattschwarzen Dunkelheit nicht erleuchtet war. Doch die Beschreibung schien zu stimmen, und so versuchte Nellie vorsichtig, was wohl passieren würde, wenn sie es beträte.
Es war ein kleines Steincottage, dominiert von einem grossen Kamin, der an der Aussenseite des Hauses angebracht war. Es schien von aussen betrachtet zwei Stockwerke zu haben und war mit dunklen Ziegeln gedeckt. Ausserdem gab es einen erstaunlich grossen Garten für so ein kleines Haus, der aber jetzt, da das Haus lange leer gestanden hatte, von kahlen, dornigen Sträuchern überwuchert war. Trotzdem liebte Nellie es auf den ersten Blick.
Ob ihr neuer Herr sie sich wohl um den Garten kümmern liesse? Nellie verlor sich in einer Träumerei, wie sie an einem lauen Sommerabend nach einem schweisstreibenden Tag in «ihren» Garten ginge, nach den Kräutern und den Rosen sähe. Wie sie zum Brunnen gehen und Wasser holen würde, damit sie den armen Geschöpfen Gottes, die nach Wasser lechzten, etwas zu trinken geben könnte. Sie sah vor sich, wie die kleinen Dinger gediehen und stellte sich das Gefühl von Stolz vor, wenn der ganze Garten in den wundervollsten Farben blühte, als wäre es der Garten Eden selbst.
Ein eisiger Windstoss erfasste die Magd und sie erwachte aus ihren Gedankenspielen. Du Närrin, schalt sie sich, geh rein und mach dich an die Arbeit, bevor du hier mit deinen Sommerträumen noch erfrierst.
Es war zuerst gar nicht so einfach, die Hütte zu betreten, denn die Tür klemmte. Nellie war einfach nicht in der Lage sie zu öffnen.
Sie war bereits drauf und dran zu verzweifeln und fragte sich, ob sie bei einem der umliegenden Höfe um Schutz bitten sollte, als ihr als letzter Ausweg ihr «Fluch» einfiel. Sie könnte ja… es war dunkel, niemand würde sie sehen! Aber es war des Teufels! Man würde sie am Ende noch wie eine Hexe, die sie ja war, verbrennen! Aber erfrieren war auch keine Option… Was solls, dachte sie sich und zog den knorrigen Zauberstab aus ihrem Ärmel. Es war ein ziemlich unelegantes Ding, verbogen und verzweigt wie ein Ast, aber Nellie wusste genau, was sie damit bewerkstelligen konnte.
Vorsichtig tippte sie an die Tür, murmelte «Alohomora», und stellte sich mit aller Macht vor, wie die Tür aufsprang. Das war das wichtigste, hatte Madam Enoch ihr erzählt, man musste auch daran glauben, dass die Magie Wirklichkeit werden würde. Mit einem schaurigen Quietschen sprang die Tür auf und gab den Blick frei auf eine dunkle Kammer. Schnell schickte sie ein entschuldigendes Gebet zu ihrem Jesus, um für Vergebung für ihre Verfluchtheit zu bitten, dann schlich sie vorsichtig hinein und schloss die Tür hinter sich. Ein Fehler, auch wenn das Tosen des Windes automatisch verstummte. Aber durch die dreckigen Fenster kam kaum ein Lichtstrahl von der Strasse und Nellies Augen waren noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt.
Was solls, sagte sie sich, für heute habe ich bereits gesündigt, da kann ein weiteres Mal auch nicht mehr schaden und wie hiess es immerhin in der Bibel, Mache dich auf, werde Licht! Denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir. Und mit einem leichten Schwung ihres Stabes erleuchtete dessen Spitze und Nellie konnte den Raum erkennen, in dem sie sich befand.
Es war eine grosse Wohnküche, ein Essbereich und eine Ecke, in der man wohl Gäste empfangen konnte, alles in einem Raum. In einer Ecke schien eine Speisekammer zu liegen, hinter einer weiteren Tür vermutete Nellie den Abtritt. Eine Treppe führte in das Obergeschoss, dort lagen bestimmt die Schlafzimmer. Alles war schmutzig und von einer dichten Staubdecke überzogen. Insgeheim machte Nellies Herz einen kleinen Hüpfer, es würde eine Menge Arbeit für sie hier geben und sie würde ihren jungen Herrn Weasley stolz machen und alles bis nächsten Sonntag blitzblank putzen, damit er zufrieden wäre! Und mit dieser positiven Einstellung beschloss sie sich eine kleine Mahlzeit zu richten und dann früh zu Bett zu gehen, um bei Sonnenaufgang mit der Arbeit zu beginnen.
4. Januar 1940
Donnerstag
Großbritannien: Alle Handelsschiffe werden von der Regierung beschlagnahmt.