Radiohead - Daydreaming (Piano Cover)
"How to make an Acquaintance"

Auf dem Weg ins Verhörzimmer bemerkte Timotheo einen kleinen Tumult in der winzigen Küche, die zwischen die Aurorenbüros gezwängt worden war. Mehrere Sicherheitszauberer von der Magischen Strafverfolgungspatrouille stürmten in die kleine Kochnische und kamen mit zwei Personen, einem Mann und einer Frau wieder heraus. Timotheo sah Rosalie etwas verstört aus der Küche stolpern. Er hätte sie gerne gefragt, was denn eigentlich los sei, ob etwas geschehen sei und ob sie in Ordnung sei, aber er traute sich nicht sie anzusprechen, ohne wichtigen geschäftlichen Grund zumindest.
Stattdessen folgte er Kedar McMorgan durch die engen, verwinkelten Gänge der Abteilung für magische Strafverfolgung. Sie hatten sich eben noch kurz abgesprochen, nun fühlten sie sich einigermassen vorbereitet für das kommende Gespräch. Und doch beschlich Theo ein ungutes Gefühl der Vorahnung. Er versuchte sich zu sammeln, wie er es vor jedem grossen Einsatz tat, falls die Nerven ihm durchzugehen drohten.
Tief durch die Nase einatmen, die Fersen fest in den Boden drücken und jeden Teil seines Körpers bewusst wahrnehmen. Für eine Sekunde spüren, wie die Welt stehenbleibt. Dann durch den Mund kräftig ausatmen und konzentriert ans Werk.
Am Ende des Ganges lag eine unscheinbare metallene Tür, ohne Beschriftung oder Türklinke. Schwungvoll tippte Kedar einen bestimmten Rhythmus gegen den Edelstahl, dann öffnete sich die Tür lautlos.
Der Raum, den sie betraten, war fensterlos und trist. Die Wände, die vor langer Zeit einmal weiss gestrichen gewesen waren, sahen nunmehr fleckig und gräulich aus. Eine einzelne, bläulich pulsierende Lichtkugel schwebte über dem alten Holztisch in der Mitte des Verhörzimmers, ansonsten befanden sich nur drei unbequem erscheinende Stühle hier.
Timotheo hatte dieses dumpfe Druckgefühl in der Magengegend, das er immer hatte, wenn er einen Verdächtigen befragen musste. Man wusste nie, was bei so einem Verhör alles herauskommen konnte und auf welche Abgründe man stossen würde.
Zudem war es nie sicher, wie der Verdächtige reagieren würde. Manche schwiegen während des gesamten Gesprächs. Andere sprudelten wild los und es war schwierig ihrem Redefluss zu folgen. Und wieder andere erzählten so unglaubliche Lügengeschichten, dass man fast versucht war, sie doch für die Wahrheit zu halten. Was würde ihn wohl heute erwarten?
Noch bevor sich Theo und Kedar setzen konnten, wurde Walter Kleine hereingeführt. Entgegen der Bedeutung seines Namens war der Deutsche, der laut Pass Ende vierzig war, hochgewachsen und hatte graumelierte Haare, die früher wohl mal blond gewesen waren. Er trug einen hellgrauen Umhang und hatte bleiche Haut mit graublauen Augen und dunklen Schatten darunter. Die hellen Bartstoppeln und hohen Wangenknochen gaben dem Mann ein hageres und leicht ungesundes Aussehen, wie eine alte Buchseite.
Die zwei Beamten der magischen Strafverfolgungspatrouille verliessen den Raum und versiegelten ihn magisch, dann zeigte Kedar auf einen der freien Stühle. «Setzen Sie sich, Mr. Kleine», forderte er ihn auf.
Die Männer nahmen Platz und Kedar bot dem deutschen Reichsbürger ein Glas Wasser an, welches er magisch erscheinen liess. Anschliessend räusperte er sich kurz, lächelte Kleine an und begann: «Mr. Kleine, Sie werden beschuldigt in das Zaubereiministerium des Vereinigten Königreiches eingedrungen zu sein und wir wissen, dass Sie versucht haben in die Mysteriumsabteilung zu gelangen. Was wollten Sie da?»
Kedar und Theo wollten ihre bewährte Verhörstrategie anwenden, einer spielten den verständnisvollen Freundlichen, der andere schwieg, nur um dann, völlig überraschend, Fragen auf den Verdächtigen zu schiessen. Doch noch ehe das Gespräch wirklich in Gang kam, wusste Theo schon, dass es heute nicht so einfach werden würde. Denn auf die Frage Kedars folgte vor allem eines: Stille. Der Deutsche ignorierte die Frage, wich dem Blick der Auroren aber nicht aus, sondern starrte McMorgan direkt ins Gesicht, ohne zu blinzeln.
«Hatten Sie vor etwas zu stehlen oder wollten Sie einfach nur die Forschungsarbeit des Ministeriums stören?» drang Kedar weiter vor, doch der Mann schwieg beharrlich.
«Verstehen Sie mich, Mr. Kleine?» versuchte es Kedar erneut. Der Mann hielt sich erwiesenermassen seit dem 23. August 1939 in England auf, das belegten Einwanderungsunterlagen. Er sprach garantiert genug Englisch um sie zu verstehen, oder etwa nicht?
Der Gefragte lehnte sich fast unmerklich vor, blickte Kedar fest in die Augen und sagte mit leiser, aber eindringlicher Stimme, die überraschend hoch war für einen Mann dieser Statur: «Sie werden sterben. Sie werden alle sterben.»
Natürlich, dies war nicht das erste Verhör, dass nicht wie geplant verlief und Timotheo hatte es schon mehrfach mit Kriminellen zu tun gehabt, deren Geisteszustand mehr als fragwürdig war. Doch das hier war anders. Dies schien nicht eine leere Drohung eines Verrückten zu sein, sondern viel mehr ein Versprechen. Und Timotheo konnte nicht verhindern, wie ihm ein leichter Schauer über den Rücken lief.
-
Tuppence war nicht nur verärgert, sie war sauer. Dieser Nathaniel Stewart hatte ihr das ganze Interview verdorben! Sie hatte nicht nur nahezu gar nichts aus der Sekretärin herausbekommen und war auch nicht dazugekommen ihre Fragen beantwortet zu kriegen. Nein, noch dazu hatte er sie während einer laufenden Sendung blossgestellt! Wie konnte er nur, dieser … Unhold?
Dass sie ihn noch wenige Stunden zuvor heimlich verehrt hatte, ignorierte sie geflissentlich. Nun galt es Schadensbegrenzung vorzunehmen. Tuppence musste noch heute eine interessante Geschichte bringen, sonst wäre sie bei ihrem Chef für den Rest der Woche untendurch.
Unschlüssig stand Tuppence in der Eingangshalle des Zaubereiministeriums und betrachte nachdenklich ihr Spiegelbild im polierten Parkettboden. Das Beste wäre es vermutlich, einen anderen Ministeriumsbeamten zu befragen. Nicht unbedingt nur zu Walter K., auch generell. Über die allgemeine Situation mit Deutschland und so weiter.
Also brauchte sie am besten einen Angestellten der Abteilung für Internationale Zusammenarbeit oder jemanden vom Zaubergamot, der ihr erzählen konnte, was für Strafen auf Spionage und Informationsdiebstahl standen. Der Zaubergamot-Verwaltungsdienst lag auf dem gleichen Stock wie die Aurorenzentrale, wo sie gerade rausgeworfen worden war und sich wohl besser für ein paar Tage nicht mehr blicken liess. Erneut flammt der Ärger über den nervigen Stewart auf. Doch dann konzentrierte sich Tuppence.
Also besser ab in den fünften Stock. Unauffällig schlenderte Tup zurück in Richtung der Aufzüge, auch wenn die Wahrscheinlichkeit sehr gering war, dass einer der Sicherheitszauberer, die sie gerade herausbegleitet hatten in der Nähe war.
Ein Hauself in einem dunkelblauen Tuch, das mit dem Emblem des Zaubereiministeriums bestickt war, einem goldenen M, öffnete die Tür für sie. Dann ging es ratternd aufwärts. Unschuldig blickte sich Tuppence um, ob sie direkt jemanden sah, der vielversprechend aussah. Oder die. Am liebsten redete Penny mit Benachteiligten, also Armen, Arbeitern und … Frauen. Sie redeten gerne, schimpften über die ihnen angetane Ungerechtigkeit und erzählten dabei manchmal mehr als sie eigentlich wollten oder sollten.
Direkt neben ihr stand ein dicklicher Mann, der wichtigtuerisch seiner Feder einen Bericht diktierte, seinen Worten nach zu urteilen ging es darin um illegalen Handel mit Hippogreifen. Zu sehr von sich selbst überzeugt, wobei er sich bestimmt gerne reden hörte. Tuppence würde ihn im Hinterkopf behalten, doch er schien nur ein kleines Licht zu sein, niemand, der wirklich etwas Spannendes für sie hatte.
Dahinter fläzte sich ein junger Mann an die Aufzugswand, eine Tasse Kaffee in der einen und den Tagespropheten in der anderen Hand, doch er schien mehr zu schlafen als zu lesen. Wer so müde um zehn Uhr morgens war, war entweder ein elender Faulenzer, oder die ganze Nacht auf gewesen. Im nächsten Augenblick sah Tuppence den Fleck auf seiner Schulter, der sehr nach Baby-Erbrochenem aussah. Ein frischgebackener Vater also. Er würde ihr nicht viel erzählen können, er hatte bestimmt seit Tagen nichts anderes als Babygeschrei im Kopf.
Doch in der Ecke, halb verdeckt von dem Hippogreif-Experten, stand eine junge Frau, etwa in ihrem Alter. Sie kam Tuppence merkwürdig bekannt vor. Das glänzende, dunkle Haar zu einem eleganten Knoten geschwungen und den kirschrot geschminkten Mund konzentriert zusammengekniffen, war sie in die Lektüre eines Berichts vertieft, und als sie kurz aufblickte, streifte der Blick ihrer eisblauen Augen Tuppence desinteressiert. Natürlich, das war Rosalia de Vautart!
Sie war mit ihr im gleichen Jahr in Hogwarts gewesen, doch bis auf Geschichte der Zauberei, Astronomie und Verwandlung hatten die beiden keine Fächer gemeinsam gehabt und das waren alles keine Fächer, die viel Partnerarbeit erforderten. Sie war eine Slytherin gewesen, während Tuppence in Hufflepuff eingeteilt worden war. Beide Mädchen waren definitiv keine Freundinnen gewesen, aber Rosalia war schon immer recht umgänglich gewesen, zumindest für eine Slytherin.
Entschlossen drängte sich Tuppence an dem pummeligen Mann vorbei, ohne auf seinen empörten Ausruf zu achten, und sprach die junge Frau an. Sie spürte wieder das altvertraute Kribbeln im Magen. Das hier könnte etwas sein, eine heisse Fährte.
«Rosalia de Vautart?», fragte sie zögernd, obwohl sie zu hundert Prozent sicher wusste, dass sie es war. Die Dame blickte auf, zeigte aber keine Reaktion des Erkennens in ihrem Gesicht. Doch Tuppence wäre nicht Tuppence gewesen, wenn sie sich davon schon hätte entmutigen lassen.
«Ich bin es, Tuppence St. Claire! Aus Hufflepuff. Wir waren zusammen in Hogwarts? Sie haben einmal zehn Punkte von Professor Morphus bekommen, weil Sie als erste eine Topfpflanze in einen Teller verwandelt hatten und sie Ihr Blütenmuster auf dem Tellerrand so schön fand.»
Nun erhellte sich das Gesicht der Frau, deren hellroter Umhang sie als Mitarbeiterin des Zaubergamot-Verwaltungsdienstes auswies.
«St. Claire, natürlich, ich erinnere mich! Sie haben einmal in Astronomie alle zu Tode erschreckt, als Sie über das Stativ eines Teleskopes fielen und es scheppernd zu Boden ging», erwiderte sie lächelnd. Nun, das war definitiv eine Geschichte, an die Tuppence eher ungern erinnert wurde, aber sie zwang sich zu einem Lächeln. Rosalia, selbstbewusst, hübsch und beliebt, gehörte garantiert nicht zu ihren Lieblings-Gesprächspartnern und unterdrücken oder benachteiligen liess sie sich gewiss nicht. Und doch, Tuppence würde an ihr dranbleiben. Das war ihre Chance.
«Was treiben Sie hier?», fragte da Rosalia schon, «Sie arbeiten ja nicht im Ministerium? Oder doch?»
«Nein», antwortete Tuppence, «Ich mache unterschiedliche Sachen. Aber wie wäre es, wenn wir schnell eine Tasse Tee trinken und uns dabei ausführlich unterhalten?»
Sie wollte nicht direkt verraten, dass sie Reporterin war, denn sie hatte die Erfahrung gemacht, dass Leute, die etwas wussten, nicht immer gerne mit der Presse redeten. Rosalia de Vautart verzog ihr perfektes Gesicht:
«Ich habe leider gar keine Zeit für Sie, in fünfzehn Minuten fängt eine wichtige Sondersitzung an…» - «Ausgezeichnet, eine Viertelstunde reicht!», unterbrach sie Tuppence schnell. Dann hackte sie sich bei der überraschten Rosalia unter, als wären sie beste Freundinnen und zog sie aus dem Lift, der gerade im zweiten Stock angekommen war, der Etage des Zaubergamot-Verwaltungsdienstes. Rosalia schob sie in ein kleines Büro.
«Okay, St. Claire, was wollen Sie von mir? Und erzählen Sie mir nichts von wegen, aufholen ob der guten alten Zeiten. Für einen solchen Unsinn habe ich keine Zeit.»
Tuppence atmete kurz durch, hier war es wohl besser als mit der Wahrheit herauszurücken. «Ich bin Reporterin und arbeite für das Radio», sagte sie darum schlicht. De Vautarts ungeduldige Grimasse glättete sich. «Nun, das erklärt einiges,» sagte sie leise. Dann überlegte sie einen Moment. Und schliessich, als Tuppence schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, fuhr sie fort: «Nun gut, stellen Sie mir ihre Fragen. Ich kann nicht versprechen, dass ich auf alles antworte, aber vielleicht habe ich ja ein paar Informationen für sie.»
Tuppence hatte keine Idee, warum diese Frau ihr absichtlich ein Interview geben sollte, aber sie überlegte nicht lange, sondern stellte die erste Frage, die ihr auf der Seele brannte.
«In wessen Büro sind wir hier eigentlich?»
Nun gut, dass war vielleicht keine sehr schlaue Frage, so etwas würde ihre Zuhörer garantiert nicht interessieren. Aber Tuppence hatte kein Interesse daran, dass der Besitzer dieses Büros auf einmal auftauchte und ihr diese Chance kaputt machte.
«Das,» sagte Rosalia mit einem selbstbewussten Lächeln, das ihre schneeweissen Zähne zeigte, «ist mein Büro. Ich bin die stellvertretende Leiterin des Zaubergamot-Verwaltungsdienstes.»
Nun musste Tuppence doch leer schlucken. Es war nicht nur ungewöhnlich, dass eine Frau im Ministerium ein eigenes Büro hatte. Noch viel ungewöhnlicher war es, sie in einer leitenden Position anzutreffen. Rosalia hatte eine Menge in den letzten zwei Jahren geschafft, seit sie aus Hogwarts draussen waren.
«Wow, dann gratuliere ich wohl besser?» sagte sie höflich. «Wie haben Sie das geschafft?» entfuhr es ihr dennoch.
«Mit harter Arbeit natürlich», erwiderte Rosalia ungeduldig, fügte dann aber noch hinzu, «mein Vorgänger ist überraschend zurückgetreten, um der Army beizutreten und ich war seine Assistentin und die einzige, die mit seiner gesamten Arbeit vertraut war.»
Nun war Tuppence wirklich beeindruckt. Es gab nicht viele Frauen, die sich in knapp zwei Jahren von einer Sekretärin zur stellvertretenden Leiterin einer ganzen Abteilung hocharbeiteten. Beiläufig fragte die junge Hexe Tuppence, ob sie immer noch einen Tee wolle und die Reporterin bejahte.
Im letzten Moment fiel Tuppence noch ein, dass sie das Interview ja noch aufzeichnen wollte. Sie öffnete ihre Tasche, nahm ein silbern glänzendes Mikrophon heraus und stellte es auf den. Anschliessend zog sie einen Steinwürfel aus der Tasche, der schwarz und rau war und etwa Tennisball-gross. Zum Schluss tippte sie sachte mit dem Zauberstab gegen das Mikrophon und den Stein und murmelte Vox traducitur und sowohl das Aufnahmegerät, als auch der Stein leuchteten mit einem Summen bläulich auf, bevor beider wieder verstummten.
Doch Rosalia reagierte blitzschnell: «Keine Aufnahmen meiner Stimme im Radio!»
Tuppence blickte ihr einen Moment fragend ins Gesicht bevor sie verstand. Sie unterdrückte ein Seufzen, zog ihr mit rotem Seidenpapier eingebundenes Notizbuch hervor, ebenso wie eine Gänsefeder. Das war ja wie in der Steinzeit!
Dann sammelte sie sich und fing an: «Tuppence St.Claire, London, 4. Januar 1940, zehn Uhr 53. Ich sitze hier im Zaubereiministerium mit einem Angestellten des Zaubergamot-Verwaltungsdienstes. Vielen Dank, dass sie sich Zeit für uns nehmen. Wie ist die Situation im Ministerium einzuschätzen? Wie beeinflusst der Krieg auf dem Festland ihre Abteilung und die Stimmung hier?»
Und während ihr Rosalia eine Tasse kochenden Tee einschenkte, fing sie an zu erzählen.
-
Der Boden war hart, aber Flora war härter. Mit einem energischen Schwung ihres Zauberstabes drang der Spaten tief in den gefrorenen Grund ein. Natürlich war jetzt, Anfang Januar nicht viel im Garten zu erledigen, aber ein paar Dinge konnte man immer tun, zum Beispiel einen neuen Zaun um das Grundstück bauen. Letzte Nach waren Rehe in den Kräutergarten eingedrungen, um an den dürren Zweigen zu knabbern und sie hatten dabei den alten Zaun einfach weggedrückt.
Oder noch ein wenig mehr Laub auf ihren Setzlingen verteilen, damit diese vor der Kälte geschützt waren. Oder Schnee schippen, damit die Wege zwischen den Beeten frei begehbar waren.
Auch wenn Flora den Garten in seiner Blühte liebte, war dies ihrer Meinung nach die magischste Zeit des Jahres an diesem Ort. Winzige Eiskristalle wuchsen entlang der Adern auf den rotbraunen Blättern, die es letzten Herbst nicht mehr geschafft hatten, zu Boden zu fallen. Der kleine Teich, der im Sommer von Seerosen überwuchert war, lag jetzt einsam und schwarz zugefroren da und man konnte sogar darüber laufen und sehen, was im Eis eingeschlossen war. Blütenblätter, altes Laub und kleine Zweige schwebten wie von Zauberhand festgehalten im Eis. Und wenn der Wind über die kargen Felder um den Garten wehte und sich schliesslich im angrenzenden Wald verfing, gab das ein eigenartiges Heulen, als würde ein Winterwesen aufstöhnen.
Mit einem letzten Schwung ihres Zauberstabes beendete Flora ihre Arbeit, dann machte sie sich auf den Weg in die kleine Hütte. Drinnen angekommen, wusch sie schnell auf magische Weise die Teetassen ab, die ihre Kollegen mal wieder nachlässig im Raum verteilt hatten.
Als sie fertig war, setzte sie sich an den kleinen Holztisch unter dem Fenster, entzündete magisch zwei weitere Kerzen, deren Wachs sich fest mit dem weichen hellen Holz des Tisches verwachsen hatte, schnappte sich ihr kleines Notizbuch, das mit dem Alpacaledereinband aus Peru, das ihr ihr Grossvater einst geschenkt hatte und fing an zu schreiben.
Bericht von
Edward Bloom
Datum: 4. Januar 1940, 21 Uhr 13
Temperatur: -6°C, leichter Wind von Norden mit mässigem bis starkem Schneefall, gefrorener Boden
Heute Planung für die Südbeete vorgenommen. Geplant ist, Lavendel und Rosmarin anzubauen. Zwei Stunden lang die Wege und Bäume von den Neuschneelasten befreit, damit die dünnen Zweige nicht abbrechen und niemand auf den eisigen Pfaden ausrutscht. Zudem diverse Köderfallen für Wühlmäuse aufgestellt, da wir letztes Jahr viele Wurzeln an diese verloren hatten. Eine frische Schicht Rindenmulch auf die Wurzelballen der Obstbäume verteilt, um diese vor dem Frost zu schützen. Zudem einen neuen Zaun zum Schutz vor Wildtieren errichtet.
Kurz blickte Flora auf ihre Aufzeichnungen, dann verharrte ihr Blick auf dem Namen. Edward Bloom. Wie stolz wäre ihr Grossvater doch gewesen, wenn sie unter ihrem eigenen Namen publiziert hätte. Doch das ging nicht, war absolut ausgeschlossen. Keiner würde Fachbücher von einer kleinen Hexe aus der Provinz lesen. Von Edward Bloom dagegen, dem gefeierten Wissenschaftler! Ja, das interessierte die Leute, ob Sammler oder Hobbygärtner.
Sie warf einen letzten Blick in ihre Notizen, blätterte durch das raue, dicke Papier des Notizbuchs und klappte es schliesslich zu. Sorgsam verstaute sie es in ihrer Rocktasche, zog ihren Mantel an, setzte eine wollene Mütze auf und macht sich auf den Heimweg. Schneeflocken fielen vom Himmel, federleicht wie winzige Eisprinzessinnen.
Flora merkte, wie ihre Gedanken wie die Eisflocken davonschwebten. Sich in der Dunkelheit verloren, im Nirgendwo und Überall. Die junge Frau, die sie heute Morgen in Ollivanders Garten gesehen hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Wer sie wohl war? Woher sie kam? Und was in aller Welt sie von einem Tag auf den anderen in dieses Dorf am Meer verschlagen hatte? Ob sie nett war und schüchtern, oder eher bestimmerisch und beherrschend, wie so viele Mädchen, die Flora kennenlernen musste Vielleicht war sie ja auch ein bisschen wie Charlotte?
Heftiger Schneefall erschwert den Schülern den Weg von Hogsmead zurück ins Schloss. Sie schlittern über den eisigen Boden und die Sicht reicht durch die dichten Flocken nur wenige Meter weit. Flora und Charlotte stolpern in der Dämmerung den steilen Pfad hoch nach Hogwarts, die Zauberstäbe hell erleuchtet vor sich ausgestreckt.
Auf halbem Weg verlieren sie den Pfad, finden sich in einem kleinen Waldstück wieder. Hier ist der Schneefall schwächer, nur vereinzelte Flocken finden ihren Weg durch das dichte Astwerk in Richtung Boden. Tannennadeln und kleine Zweige knirschen unter ihren Winterstiefeln, während sie unsicher ihren Weg suchen.
Auf einmal dreht sich Charlotte zu Flora um, ihr Gesicht hell erleuchtet von ihrem Zauberstab. Sie fängt an zu flüstern: «Flora, hast du schon einmal einen so romantischen Platz betreten?»
Flora, deren Füsse nass sind und die trotz ihres Wintermantels friert, hat eine ganze Menge anderer Sachen im Kopf als Romantik. Trotzdem muss sie zugeben, dass dies ein schöner Ort ist. Hohe Tannen umgeben sie, der Boden riecht intensiv nach Nadelholz und Erde und einzelne Schneeflocken fallen vom Himmel herab. Es ist Neumond und da es schneit sieht man keinen einzigen Stern, aber ihre Zauberstäbe spenden genug Licht.
«Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du wunderschöne Lippen hast?» unterbricht Charlotte ihre Gedanken. Verwirrt stammelt Flora: «Ähh, nein, danke?» Noch nie hat ihr jemand so ein Kompliment gemacht. Sie hat nicht viele Freunde und Jungs interessieren sich nicht sonderlich für sie.
«Ja, sie sind so voll und sehen so unfassbar weich aus…» murmelt Charlotte abwesend. Dann streckt sie vorsichtig ihre linke Hand aus und fährt mit ihrem Finger über Floras Mund, zeichnet mit ihrer eisigen Hand die warme Kontur von Floras Lippen nach. Ein Schauer läuft Flora über den Rücken und sie weiss, dass es nichts mit der Kälte von Charlottes Fingern zu tun hat.
Dann wirft ihr Charlotte einen Blick zu, als würde sie um Erlaubnis bitten, beugt sich vor und küsst Flora vorsichtig. Nicht wie eine Mutter ihre Tochter auf die Stirn oder wie eine Freundin auf die Wange, sondern wie ein Mann eine Frau küssen würde, auf die Lippen. Flora ist versteinert und elektrisiert zugleich. Das ist verboten, geht ihr durch den Kopf. Aber es fühlt sich so unfassbar gut an. Und dann erwidert sie den Kuss.
Kedar McMorgan
Rosalie Sinclair
4. Januar 1940
Donnerstag
"Aus Furcht vor Luftangriffen veröffentlicht der Schweizerische Luftschutzverband in der “Neuen Zürcher Zeitung” Hinweise zum Tragen von Gasmasken."