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Rihanna - Rehab

 

"Rehabilitation"
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Es war ein früher Morgen und Septimus war gerade dabei zu frühstücken. Trotz seines anfänglichen Misstrauens gegen die Magd, die seine Tante ihm organisiert hatte, musste er sich eingestehen, dass es seine Vorzüge hatte. Während er den Tagespropheten studierte, kaute er genüsslich frisches Steinofenbrot, dass sie zubereitet hatte und genoss ein perfektes Sechs-Minuten-Ei. Dazu ein Earl Grey und die Welt war in Ordnung. Septimus war einfach ein Frühstücks-Mensch. 

Es war faszinierend. Auch wenn Septimus genau wusste, dass zwei Menschen in diesem beschaulichen Häuschen wohnten, hätte er schwören können, dass er alleine war. Nichts liess ihn auch nur erahnen, dass eine junge Frau am Ende des Ganges in der Kammer lebte. Das einzige, was er manchmal vernahm, war ein leises Knarren der Dielen, wenn sie unauffällig durch das Haus schlich, immer auf der Suche nach Spinnweben, die sie verscheuchen konnte, nach einem Fleck, den man schrubben musste oder nach dreckigem Geschirr, dass abgewaschen werden wollte. 

Natürlich war Septimus Bedienstete gewöhnt. Seine Tante beschäftigte in London einen ganzen Stab an Angestellten, in Hogwarts hatten ihm fleissige Helferlein jede Nacht die Socken gewaschen und selbst damals bei seinen Eltern hatte es eine alte Hauselfe gegeben, die nach dem Rechten gesehen hatte. Und doch war es ungewohnt, ganz alleine mit diesem Geist zusammenzuwohnen. Anders konnte er es einfach nicht nennen. Während die Mägde in London oft tratschend in der Küche herumgestanden hatten, hatte er Nellie in den letzten Tagen kaum fünf Sätze sagen hören. Sie grüsste ihn höflich, leise und zurückhaltend und knickste leicht, falls sie sich doch mal auf dem Gang begegneten. Aber das kam überraschend selten vor. Natürlich arbeitete er viel, aber trotzdem, wo war sie die ganze Zeit? 

In ihrer Kammer wahrscheinlich nicht, denn das Haus war in einem tadellosen Zustand, sie musste ständig am putzen und reinigen sein. Aber sie schien ihm tunlichst aus dem Weg zu gehen. Eigentlich genau, wie man es von einer guten Hausangestellten erwarten würde. Und trotzdem, sie wusste so viel über ihn und er überhaupt nichts über sie. So wusste sie, um welche Uhrzeit seine Frühschichten begannen, denn einmal war er spät dran gewesen und sie war schon mit seinem Mantel im Eingang parat gestanden. Sie wusste, wie er seinen Tee mochte, fünf Minuten gezogen mit zwei Teelöffel Milch, sodass er gerade eine leicht cremig goldene Farbe hatte. Sie hatte bereits herausgefunden, welches sein Lieblingsplatz am Esstisch war, der unterm Fenster, denn sie deckte immer an genau diesem Platz für ihn ein. 

Natürlich war ihm bewusst, dass sie sich all dieses Wissen mit der Zeit aneignete, durch genaue Beobachtung und Erfahrung. Und doch, er wusste überhaupt nichts über sie! Wo war sie aufgewachsen? Waren da noch mehr Magier in ihrer Familie oder wo hatte sie das wenige bisschen Zauberei gelernt? Was trieb sie, wenn sie nicht arbeitete? 

In dem Moment hörte er das leise Trippeln ihrer Schritte aus dem Wohnbereich. Natürlich wäre sie niemals so unhöflich, ihn im Essbereich zu stören, während er am frühstücken war, doch auf einmal sehnte sich Septimus, der sein Leben lang täglich mit Familie oder Freunden gegessen hatte, nach Gesellschaft. 

«Nellie», rief er sie darum. Eine Sekunde später stand sie mit gesenktem Blick neben seinem Stuhl und sprach leise mit ihrem breiten Dialekt: «Master?» 

Oh nein, sie musste denken, sie habe etwas falsch gemacht! Idiot! Sofort fühlte er sich schuldig. Er wollte, dass sie sich zu ihm setzte, aber wie machte er das, ohne wie ein herrischer Mistkerl zu wirken, der sie nur einschüchterte?

«Würden Sie sich bitte einen Moment zu mir setzen?», fragte er darum. Das war doch gar nicht so schlecht gelungen. Nellie setzte sich auf den Platz über Eck, eine kluge Wahl von ihr, denn so musste sie ihn nicht direkt ansehen, wenn sie aufblickte. Dort sass sie, steif wie eine Puppe und genauso stumm. Septimus grübelte einen Moment, dann platzte es aus ihm heraus: «Sind Sie je in Hogwarts gewesen?»

Zum ersten Mal seit er sie letzten Samstag zum ersten Mal getroffen hatte, blickte sie ihm direkt ins Gesicht. Er stellte mit einer Mischung aus Überraschung und Neugierde fest, dass sie eigentlich ganz hübsch aussah, auf eine sehr unscheinbare Art. Nichts an ihrem Gesicht war besonders eindrucksvoll, doch die Kombination aus meeresblauen Augen, einer geraden Nase, die in einem leichten Stups endete und den blassen Sommersprossen war irgendwie charmant. 

«Sir, ich war nie in Hogwarts», sagte sie leise, fast beschämt. 

«Aber Sie haben doch sicher von der berühmtesten Zauberschule Europas gehört?», fragte Septimus sie überrascht. Jedes magische Kind in Grossbritannien wollte von den besten Professoren des Königreiches in den altehrwürdigen Gemäuern lernen. Andererseits, wenn sie wirklich nie an einer Schule gewesen war, würde das vielleicht ihren Mangel an Hexerei erklären. 

Nicht dass es ihn gestört hätte, das Haus war blitzblank, doch in den letzten drei Tagen war ihm schon das eine oder andere Mal aufgefallen, wie sie sich körperlich abmühte, wo andere einfach ihren Zauberstab gezückt hätten. Es hatte ihm ab und zu fast weh getan, ihr dabei zuzuschauen, und doch hatte er sie nicht korrigieren wollen, um sie nicht zu kritisieren. 

Nun fragte er höflich: «Wer hat Ihnen dann das Zaubern beigebracht, Miss Stalford?»

Schüchtern wand sich das Mädchen: «Die gute Madam Enoch, Gott hab’ sie selig. Sie hat mich vor einigen Jahren aufgenommen und mir alles beigebracht, was eine Magd können muss, Sir.»

Vage erinnerte sich Septimus an Madam Enoch, eine alte Freundin seiner Tante. Sie war ab und zu zum Tee vorbeigekommen und hatte Septimus und seinem Bruder immer kleine Überraschungen mitgebracht, eine Feder von irgendeinem Paradiesvogel, einen bunten Stein aus irgendeinem fremden Land oder irgendein besonders interessantes Buch. Septimus erinnerte sich seine Tante vor einigen Wochen zu ihrer Beerdigung begleitet zu haben, aber er konnte sich nicht erinnern, die junge Miss Stalford dort gesehen zu haben. Andererseits nahm man schliesslich auch nicht sein Personal zu so einem Anlass mit. 

Das Mädchen sass schweigend am Tisch, während sich Septimus an die alte Dame erinnerte und auf einmal fand er, dass sie traurig, ja einsam aussah. Natürlich. Sie musste ihre Familie vermissen, ihre alten Arbeitskollegen. Immerhin war sie hier ja den Grossteil des Tages alleine, viele Kontakte hatte sie bestimmt noch nicht geknüpft. Er nahm sich vor, sich mehr Zeit für sie zu nehmen. In diesem Moment kam ihm eine Idee.

«Nellie», sprach er sie an, «wie wäre es, wenn ich Ihnen ein paar Zaubereien zeige, ein paar Sprüche, die Ihnen die Arbeit erleichtern würden? Dann hätten Sie viel weniger Aufwand, das Haus in Ordnung zu halten und mehr Freizeit.»

Die junge Frau schaute zu seiner Überraschung nicht sonderlich begeistert. Mit zögerlicher Stimme sagte sie: «Ich arbeite sehr gerne, Sir. Und Sie müssen ihre wertvolle Zeit nicht für mich opfern.»

Septimus ignorierte ihr offensichtliches Unbehagen und lachte sie freundlich an: «Nein, nein, das macht doch nichts! Wir fangen heute Abend an!»

Und mit diesen Worten trank er den letzten Schluck seines Tees, stand auf, liess seinen Mantel mit einem Schwung seines Zauberstabes in seine Arme fliegen und machte sich auf dem Weg zur Arbeit. 


 

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Es war ein kühler Dienstagmorgen, aber wärmer als die letzten Tage. Der Wind war mehr Biese als Sturm und die kahlen Bäume standen zum ersten Mal seit Tagen eher gerade als schräg geneigt auf den leeren Feldern. Flora hatte einen ruhigen Morgen gehabt. Nachdem sie letzte Nacht um Mitternacht aufgestanden war, um Eisblumen zu pflücken, hatte sie sich entschieden, den Morgen langsamer angehen zu lassen. Sie hatte ein gemütliches Frühstück gerichtet: hartes Brot, das ihr Grossvater in seinem Tee aufweichen musste, weil ihm die nötigen Zähne fehlten um es zu kauen. Aber sie hatte einfach keine Zeit, Frisches zu backen, deswegen ging sie es immer in der Bäckerei kaufen. Dazu zwei hart gekochte Eier. Etwas Apfel, püriert für den alten Mann, in Schnitzen für Flora. 

Die beiden hatten wie ein altes Ehepaar schweigend am Küchentisch gesessen und waren beide einträchtig in den Tagespropheten versunken gewesen. Sean hatte ab und zu zustimmend oder ablehnend gemurmelt, je nachdem, welchen Artikel er gerade gelesen hatte, mit seiner auf der Nasenspitze sitzenden Brille, über die er in der Regel hinwegschaute, da sie ihn beim Lesen mehr störte als half. 

Flora dagegen war in Gedanken hunderte Kilometer weit entfernt gewesen, bei ihrem Verleger in London. Es standen bald die Lohnverhandlungen für das neue Edward Bloom-Buch an. Und auch wenn die Absätze vielversprechend waren und die Leute die Bücher zu lieben schienen, machte sie sich Sorgen. Sie brauchte das Geld dringend, denn ihr Lohn, oder besser gesagt, die Aufwandsentschädigung von den Pflanzenkundlern, reichte hinten und vorne nicht. Doch ihre Verleger waren leider von der alten Schule. Sie konnte dankbar sein, dass sie überhaupt als Frau publizieren durfte. Sie solle sich nicht so haben. Andere würden töten, um diese Gelegenheit zu bekommen. Lauter solche Sprüche durfte sie sich laufend anhören von den Herren Verleger. 

Dabei arbeitete sie hart für diese Bücher. Sie verdiente mehr als den kümmerlichen Lohn, den man ihr zusprach. Oder? War sie ihr Geld wirklich wert? Sie wusste es nicht sicher. Auf der einen Seite hatte sie das untrügliche Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, und das fuchste sie ungemein. Auf der anderen Seite sollte sie dankbar sein, bloss nicht auffallen und überhaupt: Hatte eine Frau eigentlich das Recht, eigene Bücher zu publizieren? 

Trotzdem konnte Flora nicht verhindern, dass sie insgeheim diesen Edward Bloom um seine Freiheit beneidete. Diesen Unbekannten, der Fremder und Freund zugleich war. 

Nach dem Frühstück räumte Flora den Tisch mit einem Schwung ihres Zauberstabes ab und liess das Geschirr sich selbst abspülen. Dann machte sie ihren üblichen Sicherheits-Rundgang durch das Haus, um zu sehen, ob irgendwo gefährliche Gegenstände, insbesondere magische, herumlagen, mit denen ihr Grossvater sich verletzen könnte. Anschliessend instruierte sie ihn wie jeden Tag, sich in seinen Sessel zu setzen und einen seiner geliebten Abenteurer-Berichte zu lesen. Wie jeden Tag wusste sie, dass sie ihren Grossvater bei ihrer Ankunft etwas komplett anderes machend antreffen würde. Oft war er nur auf der Suche nach etwas, was er verloren zu haben glaubte. Manchmal schlief er an den komischsten Stellen ein, zum Beispiel auf einem Sack Kartoffeln im Keller. Oder er versteckte sich, ängstlich wie ein Kind, weil er glaubte, die Geister der von ihm gebrochenen Flüche seien ihm auf der Spur. 

Das war am schlimmsten für Flora. Ihr Grossvater, der Held ihrer Kindheit, versteckte sich nicht im Schrank oder hinter einer Kommode. Er packte seinen Zauberstab und griff die Gefahr mit einem frechen Lachen an! Doch sie hatte keine Ahnung wie sie ihm helfen konnte. Sie hatte verschiedene Kräuter, insbesondere Ginko ausprobiert, doch nichts schien seine Wirkung zu entfalten. 

Als sich Flora einigermassen sicher war, dass sie das Haus bei ihrer Rückkehr nicht explodiert, abgebrannt oder winzig klein gezaubert vorfinden würde, schloss sie die Tür sorgfältig magisch ab und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Sie fühlte sich grausam, ihren Grossvater so eingesperrt seinem Schicksal zu überlassen, aber wenn sie die Tür nicht versperrte, musste sie ihn später unterkühlt und in Unterwäsche im Dorf abholen und die Schande wollte sie ihm, und irgendwie auch sich selbst, gerne ersparen. 

Auf dem Weg zur Arbeit war Flora eigentlich immer in Gedanken versunken und nahm ihre Umgebung in der Regel kaum war. Den Blick auf ihre Schuhspitzen gesenkt, als müsste sie diese bewachen, auch wirklich einen Schritt nach dem anderen vorwärts zu machen. Doch kurz bevor sie beim Garten der Kräuterkundler ankam, stach ihr etwas ins Auge. Genau genommen war sie bereits am Kräutergarten vorbeigelaufen. Es war ihr gar nicht aufgefallen, dass sie nach der Brücke nicht nach links, sondern nach rechts gelaufen war. 

Besonders überrascht war Flora darüber nicht. Es passierte ihr regelmässig, dass sie in ihrer verträumten Art falsch abbog oder sich sogar verlief. Doch was ihr jetzt aufgefallen war, war nicht die unerwartete Umgebung gewesen, die sich in flachen Feldern und wenigen, leichenartigen Bäumen manifestierte. Flora stand vor einem kleinen Haus mit einem eingezäunten Garten. Und in diesem Garten stand ein Busch. Jedem anderen wäre dieser Strauch gar nicht aufgefallen, denn im Winter trug er weder Blüten noch Blätter. Interessant war an ihm eigentlich auch nicht das Oberirdische, sondern das, was sich unter der Erde abspielte. Die Rinde der sogenannten Winterwurz war nämlich nicht nur selten und damit begehrt, sondern auch extrem effektiv gegen jedwede Atembeschwerden und zudem fiebersenkend. 

Flora hatte in Büchern über die Winterwurz gelesen, sie kennzeichnete sich durch blaugraue, blattlose Äste mit einer rötlich braunen Maserung. Eigentlich total unscheinbar. Ausser man wusste, womit man es zu tun hatte. 

Flora hatte gar nicht bemerkt, dass sie vor dem Garten stehen geblieben war, mit den behandschuhten Händen den hölzernen Zaun gepackt hatte und den Strauch anstarrte. Doch in diesem Moment riss sie eine schüchterne Stimme aus ihren Gedanken. 

«Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen, M’lady? Fühlen Sie sich nicht wohl?»

Flora blickte auf und sah ein seltsam vertrautes Gesicht. Vor ihr stand ein kleingewachsenes Mädchen, das die braunen Haare unter einer Haube versteckt hatte und ein blau gestreiftes Kleid trug. Sie stand direkt vor ihr, auf der anderen Seite des Zauns, und unter ihren Arm war ein grosser Zuber mit frisch gewaschener Wäsche geklemmt. Woher kannte sie dieses ihr anscheinend unbekannte Fräulein?

«Kennen wir uns nicht, Madam?», fragte da auch schon die Magd. Da fiel es Flora wie Schuppen von den Augen. Sie hatte das junge Ding am Samstagmorgen bei der alten Howard getroffen. Sie erinnerte sich, wie das Mädchen verschreckt aus dem Laden geflohen war, anscheinend beschämt, weil sie sich dieses eine Buch nicht leisten konnte. 

Flora räusperte sich, immer noch geschockt eine so seltene Pflanze einfach so in einem fremden Garten zu finden. «Guten Morgen, ja, wir kennen uns von der guten Mrs. Howard. Flora Griffin war mein Name, und Sie waren…?», stellte sie sich förmlich nochmal vor. Das Mädchen antwortete knapp «Nellie Stalford, wenn es beliebt, Madam.» Flora fuhr fort: «Sie haben da einen sehr interessanten Strauch in ihrem Garten. Wissen Sie, worum es sich da handelt?» Das Mädchen schüttelte beschämt den Kopf. Flora antwortete darauf: «Das ist ein sehr seltener Busch. Sie sollten gut auf ihn aufpassen. Ihn mit Blättern vorm Frost schützen. Seine Rinde kann Krankheiten heilen! Ich kann Ihnen auch zeigen, wie Sie sich um ihn kümmern können.»

Die junge Magd nickte eifrig. «Ich würde sehr gerne lernen, mich besser um diesen Garten zu kümmern. Wie Sie sich vielleicht erinnern, bin ich erst seit kurzem bei Master Weasley in Beschäftigung. Ich würde ihm gerne eine Freude machen und ihn im Frühjahr mit einem blühenden Garten überraschen.» Nun fingen die Wangen der jungen Nellie regelrecht an zu glühen. Armes Ding. Wusste sie denn nicht, dass die Heranzucht eines schönen, blühenden Gartens oft Jahre in Anspruch nahm? Aber Flora brachte es nicht übers Herz, ihr dieses Geheimnis anzuvertrauen. Zu sehr erinnerte sie der Idealismus dieses jungen Mädchens an sie selbst vor ein paar Jahren. 

«Ich schicke Ihnen eine Eule, wann ich mal vorbeikommen und Ihnen mit dem Garten helfen kann», sagte sie stattdessen, und mit einem knappen «Guten Tag», drehte sie sich auf dem Absatz um und ging mit gesenktem Blick in Richtung Kräutergarten. 
 

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Seine Eltern hatten nicht schlecht gestaunt, als Timotheo mit der jungen Reporterin vor ihrer Tür gestanden war. Sie war die erste Frau, die er nach Hause brachte, und dann auch noch zu so einer Zeit und unangekündigt! Aber was hätte er tun sollen? Er hatte sie schliesslich schlecht alleine vor der Tür stehen lassen können und bei ihm hatte sie unmöglich schlafen können, wie hätte das denn ausgesehen!

Nachdem er sich versichert hatte, das Miss St. Claire in guten Händen war, hatte er sich auf den Heimweg gemacht. Natürlich hätte er die kurze Strecke einfach apparieren können, und doch hatte er es trotz der bitteren Kälte genossen, durch die Felder nach Hause zu gehen. Der kurze Fussmarsch liess ihn seine Gedanken ordnen, während die vereisten Halme des hüfthohen Grases seinen schwarzen Mantel mit Eiskristallen benetzten. 

In seiner Ruine angekommen, liess er magisch sein Kaminfeuer auflodern, verzog sich in seinen Sessel und liess mit einem weiteren Zauber eine Tasse Tee in seiner Hand erscheinen. Dazu nahm er sich ein Stück Schokolade, Zartbitter, so wie er es liebte. Timotheo war vernarrt in Schokolade, er liebte es, wenn die dünne Silberfolie leise knisterte und im Feuerschein leuchtete, während er das schwarze Gold auspackte und die süsse Versuchung langsam auf seiner Zunge schmelzen liess. Schokolade war ein teurer Luxus und doch ein Genuss, auf den Theo unmöglich verzichten konnte. 

So gemütlich eingekuschelt war er schliesslich eingeschlafen, bis ihn um drei Uhr morgens Seeker aufgeweckt hatte, indem er ihm auf den Schoss gesprungen war. Schande, er hatte vergessen seine Haustiere zu füttern! Schnell gab er dem Frettchen etwas Katzenfutter aus der Dose und füllte den Futternapf seines Kauzes Federball auf. 

Dann verzog er sich in sein Bett, doch unter den kalten Laken war es längst nicht so kuschlig wie direkt vorm Kaminfeuer und Timotheo wälzte sich unruhig von einer Seite zur anderen. Um fünf Uhr gab er schliesslich auf, zog sich einen schwarzen Umhang an und verliess das Haus. Eine gute Viertelstunde später stand er an der Küste der Irischen See. Es war noch immer stockdunkel, doch wozu war er schliesslich ein Zauberer? Auch wenn Timotheo die Sonnenuntergänge sehr viel mehr liebte, hatte er trotzdem nichts gegen die ruhige Stimmung, die ein neuer Morgen mit sich brachte. Natürlich war es sehr viel eindrucksvoller, wenn man zusah, wie die Sonne hinter der Ile de Ramsey verschwand, und doch liebte er die Einsamkeit, die dieser Ort zu einer so frühen Uhrzeit mit sich brachte. So stand er eine ganze Weile da, schaute den Wellen zu, wie sie unermüdlich mit voller Wucht gegen die Steilküste schlugen, sich an den Felsen brachen und spritzend im Nichts verloren. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als die Helligkeit langsam aber sicher über die Nacht siegte, machte er sich auf den Weg zu seinem Elternhaus. 

Seine Mutter öffnete ihm die Tür und in der Wohnküche angekommen blieb Timotheo erstmal der Mund offen stehen. Miss St. Claire sass wie selbstverständlich auf dem Ehrenplatz, eine Tasse Tee in der Hand und tief versunken in ein Gespräch mit seinem Vater Theobalt. Der wiederrum schien sehr angetan von der jungen Dame. Aus dem Bruchteil der Konversation, den Timotheo erhaschen konnte vermutete er, dass es um Politik, insbesondere die schwelende Spannung im Deutschen Reich ging. In diesem Moment bemerkte die junge Frau ihn und begrüsste ihn: «Guten Morgen, Mr. Knight! Haben Sie gut geschlafen?»

Timotheo war noch nie von einer fremden Frau nach seiner Nachtruhe befragt worden, darum murmelte er nur, überfordert von der Situation: «Mmmh.»

Tuppence St. Claire fuhr ungerührt fort: «Setzen Sie sich doch zu uns, Mr. Knight, es gibt Toast mit Butter und Ihr Vater und ich hatten gerade ein sehr interessantes Gespräch über die magische Aussenpolitik!»

Timotheo riss sich zusammen und ohne auf ihre Worte einzugehen sagte er steif: «Ich werde gleich eine Eule schicken, um einen Portschlüssel nach London zu beantragen. In die Winkelgasse?»

Sein Vater warf ihm einen grimmigen Blick zu, als hätte er etwas Unhöfliches gesagt. Na nu, so war er doch sonst nicht drauf!

Miss St. Claire schien auch das nicht zu bemerken und antwortete fröhlich: «Nein danke, das wird nicht nötig sein. Ich habe mich entschieden, ein paar weitere Tage in dieser Gegend zu verbringen. Familienbesuch, wissen Sie?»

«Miss St. Claire ist mit Prudence St. Claire verwandt, weisst du, Theo?», warf seine Mutter aufgeregt ein. Natürlich, wie hatte er den Namen nicht bemerken können?

Die St. Claires waren eine alte reinblütige Familie und besassen ein herrschaftliches Haus mit grossem Garten am Stadtrand von St. David’s. Timotheo erinnerte sich, dass die Familie zwei Nachfahren gehabt hatte, einen Sohn und eine Tochter, beide ein gutes Stück älter als seine eigenen Eltern. Der Sohn war nun aber erst vor kurzem nach Amerika ausgewandert. Wie wohl diese Journalistin mit dieser Familie verwandt war? Vielleicht war sie eine Tochter des Sohnes, der hatte doch in London gelebt, oder nicht? Doch je länger Theo darüber nachdachte, desto mehr stellte er fest, dass es ihn eigentlich nicht einmal wirklich interessierte. Ihm war nur wichtig, dass diese Frau aufhörte, sich mit seinem Vater anzufreunden und jetzt aus seiner Küche verschwand. 

Darum nickte er nur vage, machte aber dennoch keine Anstalten, sich zu der Tischgesellschaft zu setzen. So stand er wie bestellt und nicht abgeholt mitten im Raum, eine Position die ihm aber eigentlich gar nicht so unangenehm war, bis seine Mutter ihn auch finster anblickte und unsanft auf einen Stuhl schob. Nun gut, er konnte ja auch sitzend schmollen. Timotheo war fest entschlossen, sich nicht am Gespräch zu beteiligen und allen Anwesenden klar zu machen, dass er keine Lust auf irgendwelche weiteren Annäherungen mit Tuppence St. Claire hatte. Er hatte ihr seine Hilfe geschuldet, das war Ehrensache, aber ein gemütliches Frühstück im Kreise der Familie war definitiv nicht geplant gewesen! In diesem Moment hörte er seine Mutter fragen: «Und, Miss St. Claire, wie haben Sie den unseren Theo kennengelernt?»

Die ehrfürchtige Art, mit der sie den Namen St. Claire aussprach gefiel Timotheo nicht und so bemerkte er auch erst gar nicht, in welche Richtung das Gespräch nun auf einmal zu gehen schien. Gut gelaunt antwortete Miss St. Claire: «Oh, wir hatten beruflich miteinander zu tun. Ich hatte ein paar journalistische Fragen und Mr. Knight war überaus freundlich.»

«Ach, war er?», murmelte sein Vater überrascht in seiner üblichen knappen Art. 

«Wissen’s der Timotheo ist ja ein ganz Schüchterner, wenn es um die Frauen geht!», fiel seine Mutter da auch schon ein. Erst jetzt verstand Timotheo, dass seine Eltern ernsthaft glaubten, dass da etwas Amouröses zu laufen schien, auch wenn er Miss St. Claire gestern absichtlich als «junge Dame, die er auf der Strasse aufgelesen hatte» vorgestellt hatte! Und so unterbrach er seine Mutter schnell aber bestimmt: «Mutter! Miss St. Claire und ich hatten auf rein professioneller Ebene ein kurzes Gespräch und ich denke, es wäre für alle Beteiligten gut, wenn wir jetzt gehen», und mit diesen Worten zog er die Reporterin höchst unsanft von ihrem Stuhl und schleifte sie aus dem Haus. Sie hatte gerade noch Zeit, ein kurzes «Auf Wiedersehen» aus dem Flur in Richtung Küche zu rufen, und es hatte etwas von einem Versprechen. 

Draussen schnauzte er sie an und vergass dabei sogar seine Unsicherheiten gegenüber dem weiblichen Geschlecht: «Wie können Sie so mit meinen Eltern reden?»

Tuppence St. Claire sah ernsthaft bestürzt aus, fing sich aber schnell wieder: «Aber ich habe doch gar nichts gemacht!», wehrte sie sich.

«Sie können doch nicht so charmant mit meinem Vater reden, der muss doch denken, dass wir ein Techtelmechtel am Laufen haben oder Schlimmeres!» entrüstete sich der Auror. Da fing die junge Frau doch tatsächlich an zu lachen!

«Hören Sie… hören Sie auf so fröhlich zu sein!» stammelte Timotheo. Was sollte das denn?

«Sie können mir nicht verbieten, Kontakt zu Ihren Eltern zu pflegen! Oder zu irgendwem sonst! Ich werde sie übrigens am Wochenende wieder besuchen, wenn Ihre Schwester in St. David’s ist. Ihre Eltern haben mir erzählt, dass sie eine erfolgreiche Quidditchspielerin ist und ich möchte eine Reportage über Frauen im Berufsleben machen. Und Sie werden mich davon sicher nicht abhalten. Vielen Dank für Ihre Hilfe Mr. Knight. Ich denke, wir werden uns recht bald wiedersehen.» 

Und mit diesen Worten, die wie eine Drohung klangen, liess sie ihn einfach stehen und stiefelte durch den leichten Morgennebel davon. 
 

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Armando sass auf dem bequemen Ledersessel, der in seinem Büro stand. Es hatte schon Vorteile, wenn die eigene Mutter eine Verwandte der berühmten und reinblütigen Familie Macmillan war. Das und das nötige Kleingeld hatten Armando ein Büro mit Fenster verschafft. Sehr angenehm. Natürlich war er trotzdem mehr als entschlossen gewesen, das Vertrauen, das man in ihn gesteckt hatte, wert zu sein. Doch heute war seine Aufmerksamkeit ausnahmsweise nicht auf die Arbeit gerichtet. Vor ihm stapelten sich mehrere Berichte über Vorfälle im ganzen Land, die mit den Deutschen in Verbindung gebracht wurden. Darunter befanden sich Reporte über Angriffe auf Forschungszentren genauso wie Berichte über kleine Diebstähle und Einbrüche. Doch Armando war dieser Stapel nicht einmal einen Blick wert.

Er sass steif und angespannt wie eine Raubkatze da, den Blick angestrengt auf die Themse gerichtet, auf die er von seinem Fenster aus einen hervorragenden Blick hatte. Die Verwaltung schien gute Laune zu haben, denn es fielen feine Schneeflöckchen aus einem leicht bewölkten Himmel. Ein Anblick, der Aussicht eine heimelige und fast schon romantische Stimmung gab. Kerzen erleuchteten Armandos Büro, und mit den hohen Bücherregalen an den Wänden und dem Gemälde irgendeines längst vergessenen Politikers, hätte es eigentlich ganz gemütlich sein können. 

Doch Armandos frostige Stimmung liess keinerlei Behaglichkeit aufkommen. Nachdem er am Sonntag noch mit seiner Familie zu Mittag gegessen hatte, war ihm die gute Laune definitiv vergangen gewesen und hatte sich bis heute nicht gebessert. 

Unten schlug die grosse Glocke Big Ben elf Uhr, während Armando sich an das sehr nervige und mühsame Gespräch mit seiner Mutter erinnerte, in deren Verlauf sie ihn gefragt hatte, wann denn geheiratet würde, wann er das nächste Mal Louise besuchen würde, wohin sie gedachten zu ziehen und so weiter und so fort. Armando hatte gewohnt brummig und einsilbig geantwortet, doch seine Mutter hatte sich nicht abwimmeln lassen. 

Nun sass er also hier und fragte sich, wie er aus dem Schlamassel herauskommen sollte. Er hatte über das Wochenende viel nachgedacht und je mehr er gegrübelt hatte, desto mehr war ihm klar geworden: Er wollte dieses Mädchen nicht heiraten. Er empfand rein gar nichts für sie, kannte sie noch nicht einmal! Natürlich wollte er eines Tages heiraten und Kinder bekommen. Und doch konnte er nicht verhindern, dass sich der naive Wunsch in seine Gedanken schlich, sich erst zu verlieben und dann zu vermählen. 

Doch das war idiotisch, er wusste es genau. Seine Eltern und auch Louises Familie würden niemals zustimmen, dass er die Verlobung absagte. Er würde sich also wohl oder übel seinem Schicksal ergeben müssen. Er würde sich daran machen müssen, eine Verlobungsparty zu organisieren. Seine Mutter würde das wahrscheinlich liebend gerne übernehmen. Und eine kurze Notiz im Tagespropheten und in der Times wären wohl auch angebracht. Alleine bei dem Gedanken daran, dass es dann offiziell wäre, alle es wissen würden, wurde ihm übel. Armando starrte weiter auf die Schneeflocken und er dachte sich, er wäre gerne wie sie. Kalt und tot, aber frei zu gehen, wohin ihm der Sinn stand. 
 

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Nate war immer noch unsicher, ob er einen guten Deal eingegangen war. Natürlich, er hatte Goldsteins deutschen Pass als Druckmittel. Die Angst vor Enttarnung würde vermutlich ausreichen, um sie ihr Versprechen halten zu lassen. Und doch hätte er sich wohler gefühlt, wenn er jetzt einfach einen Zauberstab in der Hand halten würde. Andererseits… sagte man nicht, dass ein Zauberstab auf den Zauberer zugeschnitten werden musste? Vielleicht hätte sich ein gestohlener Stab gar nicht seinen Wünschen unterworfen?

Nun gut, es hatte keinen Sinn darüber nachzudenken, immerhin hatte er das Mädchen partout nicht dazu bewegen können, ihn auf den Dachboden zu lassen, und da sie einen Zauberstab besessen hatte, war sie ihm dezent überlegen gewesen. Obwohl sie ein Mädchen war. 

Jetzt war es Dienstagnachmittag und Nate auf dem Weg zum Waldrand. Er hatte seinen Waldkauz zu Ollivanders Haus geschickt mit der Instruktion, die Nachricht nur Eliza zu geben. Das wäre ja noch lustiger, wenn der alte Knarrkopf seine Botschaft abfangen würde! Nun wartete er darauf, dass das Mädchen zum verabredeten Treffpunkt kommen würde. 

Nate war unruhig. Einerseits hatte er immer noch Angst, verraten zu werden. Was, wenn sie Ollivander oder sonst jemandem alles gestanden hatte? Andererseits war er es nicht gewohnt, eine Partnerin zu haben. Er wusste nicht, wie man in einem Team zusammenarbeitete, hatte er dies doch schon seit seinen Hogwartszeiten nicht mehr tun müssen. Selbst bei BB arbeitete er aus Prinzip alleine, das wäre ja noch schöner, wenn er sich mit den ganzen Idioten und Tunichtguten hätte herumschlagen müssen, die dort freiwillig arbeiteten.

Nervös trat der junge Mann von einem Fuss auf den anderen und schlang die Arme fest um seine Schulten, um seinen hageren Körper vor der Kälte zu schützen. Hier unter den Fichten am Rande des Waldes bliess ein eisiger Wind. In diesem Moment hörte er Schritte, leicht und vorsichtig, als würden sie versuchen, nicht auf dem glitschig eisigen Grund auszurutschen. Nathaniel drehte sich um und da stand sie. 

Das Haar hatte sie zu einem lockeren Zopf geflochten, aber ein paar Strähnen hatten sich gelöst und waren ihr ins gerötete Gesicht gefallen. Während ihre Augen in einem tiefen Schokoladenbraun leuchteten, war ihre Haut seltsam bleich. Das hellbraune Haar, das in der matten Wintersonne glänzte, bildete einen reizvollen Kontrast dazu. 

Nate bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass er sie anstarrte, dann fing er sich und sagte, etwas ungehaltener als er eigentlich wollte: «Du bist spät dran, ich warte schon seit Ewigkeiten!»

Sie hatte wenigstens den Anstand sich zu entschuldigen und murmelte etwas von ihrem Bruder. Stimmt, da war ja noch ein weiteres Kind gewesen, ein zweiter Ausweis. Einen Moment lang wartete er, dass sie etwas sagte, vielleicht sogar einen Zauberstab unter ihrem dünnen blauen Wollmantel hervorholte. Doch als die Stille anfing, selbst ihm unangenehm zu werden, fragte er schliesslich: «Und, ist dir etwas eingefallen, wie du dein Versprechen halten wirst?»

Eins musste man ihr lassen, sie druckst nicht herum, sprach die Wahrheit offen aus: «Nein. Ich weiss es wirklich noch nicht. Aber immerhin haben Sie mir auch nicht übermässig viel Zeit gelassen, mir etwas zu überlegen.»

Irgendwie hatte sie damit recht. Aber trotzdem, was sollte er denn ohne Zauberstab tun? Wie stellte sich dieses dumme Ding das vor? Doch so einfach wollte er nicht aufgeben. Er versuchte es noch einmal: «Aber bei euch im Haus liegen doch bestimmt dutzende Stäbe herum. Nimm einfach irgendeinen, keiner wird es bemerken.»

Da lachte die junge Frau doch tatsächlich auf! 

«Sie kennen Ollivander wohl nicht. Eher würde er den Verlust eines seiner Finger ignorieren, als dass er nicht bemerken würde, dass ihm ein Zauberstab fehlt.»

Frustriert trat Nate einen Kieselstein, der aus dem Schnee hervorlugte, davon. Auf diese Weise kam er also auch nicht ans Ziel.

«Tja, dann wirst du mir wohl einen bauen müssen», sagte er darum schnippisch. 

Einen Moment starrte ihn das Mädchen mit seinen grossen Rehaugen an. Dann schien sich ihr Gesicht eine Spur zu erhellen. Nate wollte aufstöhnen! Das konnte sie doch nicht ernst meinen, das war doch bloss ein Scherz gewesen! Sie hatte wohl seinen entnervten Gesichtsausdruck richtig gedeutet, denn ohne dass er etwas sagen musste, erwiderte sie: «Nein, nein! Warum denn nicht? Ich könnte Ollivander unter einem Vorwand bitten, es mir zu zeigen. Ich könnte Bücher darüber lesen! Das wäre der perfekte Weg! Sie bekommen einen Zauberstab und lassen mich in Ruhe?»

Der letzte Satz hatte mehr wie eine Frage geklungen. Nate blickte sie einen kurzen Moment eindringlich an. Etwas in ihrem ernsten Gesicht sagte ihm, dass sie wirklich fest entschlossen war, das durchzuziehen. Und andererseits, was hatte er schon zu verlieren? Doch während er insgeheim sicher war, dass das niemals klappen würde, nickte er ergeben. 
 

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Sie waren unangemeldet gekommen und Amelia ärgerte sich bis jetzt, dass sie sie hereingelassen hatte, anstatt einfach so zu tun, als wäre niemand daheim. Ihre Eltern waren erschienen, wie sie immer kamen: mit einem grossen Auftritt. Ihre Mutter umarmte sie mit Küsschen auf beiden Wangen, während ihr Vater ihr staatsmännisch die Hand schüttelte. Dann warf ihre Mutter ihr ihren Nerz entgegen, zog theatralisch ihre Handschuhe aus, und während sie mit diesen herumwedelte, seufzte sie dramatisch: «Liebes, dein Haus sieht immer so langweilig aus, so schmucklos! Keine Blumen, keine Teppiche, kaum Gemälde! Wie hältst du es nur hier aus? Hat Isaac etwa kein Geld, um dir ein standesgemässes Zuhause zu bieten?» 

Amelia biss sich auf die Zunge um nicht zu erwidern, dass ihre Eltern ihr diesen Ehemann ausgesucht hatten, stattdessen sagte sie nur leise: «Mir gefällt es so schlicht», doch ihre Mutter hörte sie schon nicht mehr, da sie weiter in die Küche stolziert war. Ihr Vater hatte es sich bereits im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Aus dem Raum nebenan hörte sie ihre Mutter rufen: «Wo ist denn mein kleiner Charlie?»

Amelia, die wusste, dass ihr Sohn im Obergeschoss schlief, lief schnell zu ihrer Mutter und schloss die Küchentür hinter sich, damit Charlie von dem Lärm nicht aufgeweckt würde. 

«Er schläft, er ist krank geworden. Eine böse Erkältung. Wir werden ihn nicht stören!» Die letzten Worte waren so bestimmt hervorgekommen, dass nicht einmal ihre Mutter zu Widerworten anhob. Stattdessen fing sie sofort mit der üblichen Tirade an: «Hast du ihn ohne Mütze nach draussen gelassen? Du gibst ihm bestimmt nicht genug Gemüse zu essen! Er ist halt so ein schwächliches Kind!»

Amelia, die sich nie selbst gegenüber ihren Eltern verteidigt hätte, kannte keine Grenzen, wenn es um ihren Sohn ging!

«Mutter! Er ist einfach krank geworden! So etwas passiert. Ich wäre froh, wenn ihr jetzt geht! Ich muss mich um ein krankes Kind kümmern.»

Und unter den verächtlichen Blicken ihrer Eltern komplementierte Amelia sie in Richtung Haustüre. Als sie sie endlich hinter ihnen zugeschlossen hatte, musste sie erstmal durchschnaufen. Wie hatte sie es mehr als zwanzig Jahre mit diesen Menschen unter einem Dach ausgehalten? Und wie schon so oft, wenn Amelia mit ihren Eltern konfrontiert worden war, spürte sie die Dunkelheit unaufhaltsam über sich rollen und ergab sich ihr kampflos.  
 

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Sie wartete bereits in der kleinen Teestube am Dorfplatz. Gut so. Aber immerhin hatte Rosalia genau das eingeplant, als sie absichtlich fünf Minuten zu spät erschienen war. Sie wollte nicht nur klar machen, dass sie hier das Sagen hatte, sie hatte auch einfach keine Lust gehabt, alleine zu warten. Rosalia war dezent überrascht gewesen, als sie am Dienstagmorgen eine Eule von Tuppence St. Claire erhalten hatte, in der es hiess, dass sie in der Gegend war und ob man sich am Nachmittag treffen wolle. Eigentlich war es ihr gar nicht recht, dass die Reporterin ihr so hinterher schnüffelte. Sie hatte doch alles bekommen, was sie wollte, oder etwa nicht? Was wollte sie nun? Aber Rosalia hatte eh vorgehabt, heute von zuhause aus zu arbeiten, weil Mr. Herbarius versprochen hatte, am späten Nachmittag nach ihrer Grossmutter zu schauen. 

Hoheitsvoll setzte sich Rosalia an den kleinen Tisch, grüsste die andere Dame mit einem würdevollen «Guten Tag» und winkte der jungen Bedienung, auf dass sie ihr einen Tee bringe. Wie erwartet eröffnete Tuppence ihr auch gleich, was sie von ihr wollte: «Guten Morgen, Miss de Vautart. Ich hatte Ihnen geschrieben, weil mir nach unserem letzten Gespräch ein paar Fragen durch den Kopf gegangen waren.»

Rosalia schwieg, während sie vorsichtig etwas Zitrone in ihren Darjeeling träufelte. Dann antwortete sie ohne ihren Blick zu heben: «Schiessen Sie los.»

«Sie hatten letzte Woche eine Organisation namens die Letzten Walpurger erwähnt. Was wissen Sie über diese Gesellschaft?»

Rosalia dachte einen kurzen Moment nach. Dann hatte sie sich entschieden.

«Was ich Ihnen jetzt erzähle, ist eigentlich ein offenes Geheimnis, doch viele Leute ziehen es vor, die Augen vor der Wahrheit zu verschliessen. Dies ist der Grund, warum nur sehr wenige Leute von den Letzten Walpurgern wissen. Sie haben vor einigen Jahren angefangen, sich um ihren Führer, einen Magier namens Burkhart Schlutke zu versammeln. Anscheinend verfolgen sie Grindelwald-ähnliche Motive: die Reinhaltung der magischen Rasse und insbesondere die Verfolgung von Minderheiten wie Sehern, Metamorphmagiern und Muggelstämmigen.»

Vorsichtig nippte Rosalia an ihrem Tee. Autsch, er war immer noch heiss. Dann fuhr sie mit gesenkter Stimme fort: «Das Ministerium verfolgt schon seit einer geraumen Weile die Aktivitäten diese Organisation, vor allem aber, seit Mr. Schlutke der magische Reichskanzler wurde und seine Organisation die Regierungsgeschäfte übernahm. Seitdem hat sich eine Menge im Deutschen Reich getan, parallel zu den Entwicklungen in der Muggelwelt. Minderheiten werden nun unter dem Deckmantel von Notverordnungen und Scheingesetzen aktiv verfolgt und an unbekannte Orte verschleppt. Kriegsgefangene aus Osteuropa werden unseren Augenzeugenberichten nach zu Zwangsarbeit in Deutschlang verpflichtet. Wir wissen noch nicht ganz genau Bescheid, aber es scheint, dass Schlutke, ähnlich wie ein gewisser Muggel namens Adolf Hitler, versucht, seine eigene magische Herrenrasse zu erschaffen, eine Art Elitezauberer-Reich.»

Tuppence nickte langsam, während sie eifrig in ein kleines ledernes Notizbuch schrieb. Dann fragte sie: «Warum weiss davon niemand etwas? Warum lesen wir nicht täglich darüber in den Zeitungen?»

«Das wissen Sie doch selbst ganz genau, denken Sie nach, Miss St. Claire. Keiner will über solch bedrohliche Nachrichten lesen, vor allem nicht, wenn sie so weit weg geschehen. Und ein Krieg auf dem Festland könnte auch unsere Regierung bedrohen, wie sähe das denn aus, wenn herauskäme, dass wir hier einfach zusehen, während im Deutschen Reich Menschen verfolgt und ermordet werden?»

Und während Rosalia elegant den letzten Schluck ihres Tees schlürfte, schien die Reporterin noch nachdenklicher als zuvor. 
 

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Sie hatte gerade die Haustür sorgfältig hinter sich geschlossen, als in ihrem Rücken eine genervte Stimme erklang. 

«Wo warst du?»

Es war Garrick Ollivander. Eliza zuckte zusammen, sie hatte ihn nicht gesehen, wie er da auf seinem Sessel in der Ecke sass. Nun funkelte er sie aber kalt aus seinen eisgrauen Augen an. Eliza schluckte. 

«Ich war nur spazieren», antwortete sie leise. 

Dann erinnerte sie sich an das Gespräch mit dem geheimnisvollen Dieb. Sie hatte schon wieder vergessen, ihn nach seinem Namen zu fragen! Den Brief, den er ihr am Morgen geschickt hatte, hatte er mit Nateunterschrieben. Ob sie Ollivander nach ihm fragen sollte? Wohl besser nicht. Stattdessen musste sie etwas sehr viel unangenehmeres hinter sich bringen. Sie dachte einen kurzen Moment nach, dann entschied sie sich, es mit Schmeicheleien zu versuchen: «Mr. Ollivander, ich habe noch nie so schöne Zauberstäbe gesehen, wie die, die Sie hier den ganzen Tag bauen, und es sind so viele, da habe ich mich gefragt…» 

Doch Ollivander unterbrach sie abrupt: «Du bekommst keinen Zauberstab!»

«Das war gar nicht meine Frage», liess sie sich nicht entmutigen, «Ich wollte wissen, ob Sie mir helfen würden, einen Zauberstab zu bauen?» brachte sie es schliesslich hinter sich. 

Er blickte sie ungläubig an, dann lachte er auf. Er hatte eine schöne Stimme, sehr melodisch und klangvoll. Doch dieses Lachen war alles andere als freundlich gemeint. 

«Du dummes Kind, du denkst doch nicht ernsthaft, dass man einen Zauberstab zusammenschraubt wie einen gewöhnlichen Stuhl? Man muss ihm Leben einhauchen, ihn grossziehen wie ein Kind, ihm Liebe und Aufmerksamkeit schenken, die Magie in ihm wecken! Schlag dir das aus dem Kopf, Mädchen!»

Obwohl Eliza vor den Kopf gestossen war, war sie gleichzeitig fasziniert, wie leidenschaftlich er auf einmal klang, wie weich seine Stimme wurde und wie sehr seine sonst so emotionslosen Augen plötzlich leuchteten. Sie konnte das auch! Wenn sie es wirklich wollte, würde sie es schon irgendwie schaffen. Sie musste einfach! Sie würde es Ollivander und diesem Nate zeigen und sie beide überraschen! Und sie fasste den Entschluss, auf eigene Faust einen Zauberstab zu bauen, koste es, was es wolle!

PLACES

 

St. David's

Septimus' Haus

Magnus' Haus

Timotheos Haus

Strand

Haus der Familie Knight

Wald

Ollivanders Haus

Amelias Haus

Teestube

London

Zaubereiministerium

HISTORY

9. Januar 1940

Dienstag

Seekrieg: Deutsche Patrouillenboote versenken das englische Unterseeboot Undine sowie die S-Klasse U-Boote Seahorse und Starfish in der Deutschen Bucht bei Helgoland mit Wasserbomben (am 6., 7. und 9. Januar). Englische U-Boot-Operationen in der Deutschen Bucht werden von daraufhin vorübergehend ausgesetzt.
Das englische Passagierschiff Dunbar Castle läuft südöstlich von England auf eine Mine und sinkt.

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