top of page

Panic! At The Disco - High Hopes

 

"High Hopes"
014 High Hopes_edited.jpg

Tagebuch des Michael T. Willkens

6. Januar 1940

Zu Fuss von Aubigny-en-Artois nach Avesnes-le-Comte. Strecke eigentlich nur 11 km lang, aber wir mussten Umwege durch Felder wegen der Appariersperre machen. Ferguson und ich bleiben beim Lager, zur Wache. Schlafen im Wechsel, doch es ist schwierig zur Ruhe zu kommen. Ferguson erzählt von seiner jungen Frau, laut seiner Beschreibung schön wie eine Prinzessin. Das Heimweh lässt uns die Lieben noch wundervoller erscheinen als sie wirklich sind. Sind guter Dinge und hoffen auf einen raschen Sieg.

 

-



Am Samstagmorgen erwachte Nellie noch vor den ersten Sonnenstrahlen. Sie brauchte keinen Wecker, sie besass so einen Luxusgegenstand wie eine Uhr noch nicht einmal. Doch da sie von klein auf jeden Tag zur gleichen Uhrzeit, nämlich um fünf Uhr morgens aufgestanden war, war es für sie das Natürlichste. Im Dunklen tastete sie nach ihrem Rosenkranz aus hölzernen Perlen, den sie auf ihrem Nachttisch liegen hatte. Sie begann den Tag mit einem kurzen Morgengebet, bei dem sie allen Verstorbenen gedachte, die sie kannte und um einen guten und erfolgreichen Tag bat. Anschliessend duschte sie sich in ihrem neuen Bad und erfreute sich daran, dass sie diesen Luxus besass und sich nicht wie sonst über einer Schüssel waschen musste. Dieses Glück wurde nicht einmal durch die Tatsache getrübt, dass das Wasser eisig war, denn auf die Idee, es magisch aufzuheizen, kam sie nicht und das teure Feuerholz musste ja schliesslich für den Hausherrn gespart werden.

Anschliessend zog sie sich ein frisch gewaschenes Kleid an, das grau-blau gestreifte mit der weissen Bluse. Eigentlich wechselte sie ihre Kleidung nur am Sonntag, nach der Kirche, aber dies war ein besonderer Anlass, immerhin würde sie zum ersten Mal auf ihren neuen Herrn stossen und wollte unbedingt einen guten Eindruck hinterlassen. Zum Schluss bürstete sie ihre Haare kurz mit einem groben Kamm, aus dem schon ein paar Zinken herausgebrochen waren, und flocht sie zu einem ordentlichen Knoten am Hinterkopf. Bis sie endlich fertig und bereit für den Tag war, schienen bereits die ersten Sonnenstrahlen durch ihr Fenster in den kleinen Raum. 

Auch wenn noch immer einzelne grauviolette Wolken über den Himmel zogen, versprach es, ein wunderschöner Tag zu werden. Der Schnee, der noch immer zentimeterdick den Garten und die umliegenden Felder bedeckte, glitzerte pink und golden in der aufgehenden Sonne und die knorrigen Obstbäume, die sich auf dem Grundstück fanden, warfen lange Schatten. Kurz verweilte Nellie am Fenster und nahm den Anblick in sich auf, genoss das Gotteswerk, das sich ihr bot. 

Dann machte sie ihr Bett ordentlich, warf einen letzten prüfenden Blick durch ihre Kammer, ob auch ja alles ordentlich war und verliess das Zimmer. Man wusste schliesslich nie, ob der Herr einen Kontrollgang durch die Räume der Angestellten machen und kontrollieren würde, ob alles beim Rechten war. Unten in der Küche nahm sie sich eine Scheibe Brot, ein Stück harten Käse und eines der hartgekochten Eier, die sie letzte Woche gekauft hatte. Da sie keine Herrschaften zu bedienen hatte, durfte sie essen wann sie wollte und musste nicht zuerst das Frühstück für die hohen Leute richten. Nach ihrer Mahlzeit fegte sie noch einmal das gesamte Haus, auch wenn sie dies erst gestern gemacht hatte. Sie rückte die Tischdecke in der Speiseecke zurecht, richtete alle Kerzenhalter auf den Simsen und Regalen exakt aus, sodass sie je genau drei Handbreit Platz zwischen einander hatten. Sie nahm einen feuchten Lumpen und wischte den Steinboden im Erdgeschoss. Dann blickte sie sich unsicher um. Einerseits wusste sie genau, dass es nichts an ihrer Arbeit auszusetzen gab, sie war tadellos. Und doch spürte sie eine Nervosität, wie sie sie nie gekannt hatte. Dies war erst ihre dritte Herrschaft. Bei ihrem ersten Herrn war sie geboren worden, Madam Enoch hatte sie unbedingt gewollt, doch diesen Dr. Weasley kannte sie überhaupt nicht. Sie hatte sich noch nie auf diese Art beweisen müssen. 

Nellie beschloss, zur Feier des Tages etwas besonderes zu kochen. Dann fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, was Master Weasley gerne mochte. Ass er gerne Fisch, wie viele Menschen, die in Küstennähe wohnten? Bevorzugte er eine warme Mahlzeit am Abend oder am Mittag? Nellie dachte kurz nach, dann entschied sie sich, verschiedene Dinge einzukaufen, um ihrem neuen Herrn unterschiedliche Auswahlmöglichkeiten zu bieten. 

Sie zog ihren Mantel an, schlüpfte in ihre Lederstiefel, band sich ein Kopftuch um und schnappte sich einen Weidenkorb, in dem sie ihre Einkäufe heimtragen wollte. Anschliessend machte sie sich auf den Weg in das Stadtzentrum von St. David’s. Auch wenn sie erst seit ein paar Tagen hier wohnte, kannte sie diesen Weg schon ungefähr. Die Stadt zu finden war aber auch nicht schwierig, immerhin war das Land sehr flach und man sah die Häuser und die Rauchsäulen aus den Kaminen schon von weitem, nur wenige kahle Bäume und dichter Nebel versperrten die Sicht. Nach etwa zehn Minuten Fussmarsch erreichte sie die äussersten Häuserreihen von St. David’s und erst hier wurde es schwieriger. Klar, Nellie konnte einfach der Hauptstrasse folgen, dann kam sie ins Zentrum und zu den wichtigsten Läden. Doch heute wollte Nellie mal abseits der grossen Strasse nach neuen Läden, Geheimtipps Ausschau halten. Vielleicht konnte sie Master Septimus ja positiv überraschen. 

Langsam spazierte Nellie über das nasse Kopfsteinpflaster. In der Nacht war der Boden gefroren gewesen, doch jetzt schien die Sonne auf den steinernen Boden und liess das Eis schmelzen. Keiner war auf der Strasse unterwegs, aber die ersten Ladenbesitzer öffneten bereits ihre Türen, stellten Auslagen auf der Strasse aus und bereiteten sich auf ihre Kundschaft vor. Gemütlich schlenderte Nellie durch die Gassen, bog mal hier und mal dort ab. Irgendwann fand sie sich in einer nebligen Sackgasse wieder, umgeben von hohen Häusern mit geschlossenen Fensterläden. Wie war sie hierhergekommen? Und viel wichtiger, wie würde sie wieder heimfinden? Unsicher sah sich Nellie um. Zu ihrer Rechten waren zwei Haustüren, aber sie sahen verschlossen aus. Doch zu ihrer Linken fand sich eine Art Laden. Zumindest dachte Nellie, dass es eine Art Geschäft sein müsste. Über der Tür hing ein vergilbtes Schild mit der Aufschrift Howard’s Hausrat. Der Laden sah von aussen aus, als wäre er seit mindestens zehn Jahren nicht mehr geöffnet gewesen. Und doch übte das Schaufenster eine komische Anziehung auf sie aus, auch wenn in ihm nur ein alter Tisch stand, übersäht mit Spiegeln, Kämmen, einer Nähmaschine und diversem anderen Kleinkram.

Nellie nahm all ihren Mut zusammen und ging festen Schrittes auf die Tür zu, doch in dem Moment, als sie die Klinke herunterdrücken wollte, ging sie von alleine auf. Erschrocken bekreuzigte sich Nellie. Natürlich war sie eigentlich an solche Zauberkunstwerke gewöhnt, doch sie hätte nie erwartet, sie hier, mitten auf der Strasse zu sehen. Schnell blickte sie sich um, ob da jemand war, der sie beobachtet hätte, aber sie war alleine. Ihre zitternden Finger in ihren Taschen versteckend betrat Nellie das düstere Geschäft. An den Wänden standen diverse Regale mit verschiedenen Haushaltsgegenständen. Die meisten sahen ganz normal aus, wie Nellie sie auch schon gesehen hatte, zum Beispiel ein Radio, Besteck, ein Bügeleisen für die Wäsche und anderen Kram. Doch auch komische Gerätschaften fanden sich da, auf die sich Nellie überhaupt keinen Reim machen konnte. 

Sie drehte sich um und erschrak beinahe zu Tode. Hinter ihr stand eine winzige, bucklige alte Dame, mit einer Warze unter dem linken Auge, langen grauen Haaren, die sie zu einem Zopf geflochten hatte und einem freundlichen Lächeln im Gesicht, das eine grosse Zahnlücke entblösste. Sie sah aus wie der Inbegriff einer Hexe, wie man sie in Märchengeschichten oder Sagen beschrieben bekam. Und in diesem Moment wusste Nellie, dass sie in keinem gewöhnlichen Laden war. 

«Kann ich dir helfen, meine Kleine?» schnarrte die Alte. 

Nellie war zu versteinert um auch nur den Kopf zu schütteln. Die Frau war nicht unfreundlich, sie war nur so schrecklich …. unnormal! So anders als alle Menschen, die Nellie je gesehen hatte. Die junge Hexe unterdrückte den Impuls sich noch einmal zu bekreuzigen. Sie wollte schon «Nein, danke» sagen, da öffnete sich die Tür hinter der Alten erneut und eine junge Frau mit schwarze Locken und einem hellbraunen Wollmantel kam herein. Sie hatte dunkle Augen und erstaunlich gebräunte Haut, viel dunkler als sogar Mitch im Sommer, wenn er mal wieder ohne Hemd draussen gewesen war. Nellie starrte sie überrascht und neugierig an. Die alte Hexe drehte sich zu dem Neuankömmling um und rief, scheinbar erfreut: «Mein Kind, wie gut, dass du kommst! Meine armen Knochen vermissen deine Basilikum-Fichten-Sassafras-Öle, ich kann schon kaum noch laufen!» 

Tatsächlich hinkte die Frau nun auf das Mädchen zu. Diese antwortete höflich: «Entschuldigung, Madam Howard, ich hatte in den letzten Tagen keine Zeit. Mein Grossvater, sie wissen schon…»

Dann entdeckte sie Nellie, die immer noch erstaunt und versteinert an Ort und Stelle stand. Die junge Frau mit dem exotischen Aussehen sah neugierig zu ihr herüber, dann schien sie sich einen Ruck zu geben und streckte ihre Hand aus. «Flora Griffin, wir kennen uns noch nicht.» 

Es passierte nicht häufig, dass Menschen auf der Strasse oder in Läden von sich aus auf Nellie zugingen um ihre Bekanntschaft zu machen. Klar, diese Frau war keine Adlige, aber arm schien sie auch nicht zu sein und sie war sicher keine Magd. Nellie murmelte ihren Namen, so leise und schüchtern, dass die andere sie eigentlich unmöglich verstehen konnte, doch Miss Griffin fragte nicht nochmal nach. Stattdessen schien sie etwas anderes viel mehr zu interessieren. «Sie sind nicht von hier.» Das war keine Frage, sondern vielmehr eine Aussage gewesen. Da fuhr die junge Dame auch schon fort: «Sind Sie schon lange in St. David’s?»

Höflich antwortete Nellie, wie sie es gewohnt war, Höhergestellten zu antworten: «Seit ein paar Tagen, Miss.»

«Und was brauchen sie, dass Sie diesen Laden gefunden haben?» 

Verwirrt schaute Nellie sie an. 

Da verstand die alte Hexe und sprach: «Sie kennen diesen Laden nicht, mmmh? Nun, ich habe Sie ja auch noch nie gesehen. Man kann Howard’s nur finden, wenn man etwas braucht. Oder wenn Madam Howard einen braucht. Also, was brauchen Sie?»

Nellie schaute immer noch verständnislos. «Ähh, ich weiss nicht was ich brauche. Ich glaube, ich brauche nichts.»

Madam Howard warf einen fragenden Blick auf Nellies leeren Korb. Dann fiel Nellie etwas ein: «Nun, ich muss für meinen Herrn heute etwas kochen und ich weiss überhaupt nicht, was er gerne isst…»

«Na bitte, Madam Howard ist immer da, wenn man sie braucht!» unterbrach die runzlige Alte sie. Sie verschwand kurz hinter ihrem Ladentresen. Verwirrt blickte Nellie ihr hinterher, doch noch ehe Miss Griffin ihr ein vielsagendes Lächeln schenken konnte, war die ältere Hexe schon wieder da, in der Hand ein dickes Buch. Sie erklärte: «Dies ist ein Kochbuch, mit bekannten Zaubern wie Coquam bubulae und Geheimtricks wie fiat dulcium»

Nellie blickte sie nur verständnislos an. «Aber…» fing sie an. Sie traute sich nicht zuzugeben, dass sie eigentlich nur in Notfällen zauberte und das noch nicht einmal sehr erfolgreich. Ganz davon abgesehen, dass sie grösste Schwierigkeiten dabei hätte, ein Buch zu lesen. 

«Es kostet dich auch nur fünf Knut,» lockte die Alte. 

«Ich habe keine Knut bei mir. Ich weiss nicht einmal was das ist,» gab Nellie kleinlaut zu. 

«Oh,» war alles, was Madam Howard von sich gab. Man sah ihr die Enttäuschung deutlich an. 

«Ich glaube, ich gehe besser. Habe die Ehre, Madam Howard, Miss Griffin.»

Und mit diesen Worten verliess Nellie schamesrot den Laden und machte sich auf den Weg nach Hause. 

 

-


Rosalia rümpfte die Nase, als sie vorsichtig über das gefrorene Pflaster stakste, in einem weiten Bogen herum um die halbvereisten Pferdeäpfel. In London gab es kaum noch Pferdekarren, sie waren inzwischen durch Autos ersetzt worden und wenn doch einmal eines dieser Tiere seinen Unrat hinterliess, wurde dieser sofort von der staatlichen Strassenreinigung beseitigt. Doch hier, auf dem Land, kümmerte sich niemand darum, ob ein Ross auf den Boden äppelte, man stieg einfach darüber, wenn überhaupt. 

Rosalia erschauderte, wenn sie daran dachte, dass vermutlich Pferdemist an ihren Schuhen klebte, es waren Hippogreifleder-Stiefel und sie hatten 7 Galleonen gekostet! Natürlich konnte sie das Lederwerk mit einem einfachen Zauber reinigen, aber es ging ums Prinzip. Rosalia war auf dem Weg in die Apotheke. Ihrer Grossmutter war es in den letzten Tagen zum Glück besser gegangen, trotzdem wollte sie ihr etwas gegen diesen schlimmen Husten kaufen. Am Mittwochabend war sie noch eine Weile durch die Strassen von St. David’s geirrt, ohne jemanden zu finden. Sie war schliesslich verzweifelt wieder im Haus ihrer Grossmutter angekommen, nur um festzustellen das die alte Dame eingeschlafen war. Zuerst war sie erschrocken gewesen und hatte schon gedacht, sie wäre vielleicht tot, aber das tiefe, rasselnde Atmen ihrer Oma hatte ihr das Gegenteil bewiesen. 

In den letzten Tagen hatte sich der Zustand von Malvine verbessert, sie hatte auch kein Fieber entwickelt und sogar zunehmend Appetit gezeigt. Und doch, ganz geheuer war die Sache Rosalia nicht. Nun war sie hier, auf der Strasse nach St. David’s, die das etwas ausserhalb gelegene Haus ihrer Grossmutter mit dem Dorf verband. Der Ort selbst war durch den leichten Samstagmorgen-Nebel kaum zu sehen, nur schemenhafte Schatten und hier und da ein erleuchtetes Fenster in der Ferne. Doch Rosalia kannte den Weg in- und auswendig, von ihren früheren Besuchen in Wales. Einfach der Strasse folgen bis zur Kreuzung, dann rechts abbiegen und immer weiter, bis man St. David’s erreichte. Und dann war man auch schon kurz darauf im Stadtzentrum. Wobei Zentrum bei so einem kleinen Ort fast schon lachhaft war. Eine Stadt wie London oder Edinburgh, ja, die hatten ein Zentrum! Aber St. David’s hatte noch nicht einmal eine Stadtmauer. 

Nach einem kurzen Fussmarsch wurden die Umrisse der ersten Häuser von St. David’s klarer und man konnte immer mehr Details erkennen, wie die verwitterten Fensterläden, die wie weite, offene Münder aufgerissen waren oder die schön geschnitzten Türen, die gleichzeitig hübsch, aber mit ihrem massiven Holz auch etwas abweisend wirkten. Rosalia fühlte sich etwas unbehaglich. Es trieb sie nicht nur die Sorge um ihre Grossmutter um, sie fühlte sich auch nicht gerade willkommen. So war es schon in ihrer frühen Kindheit gewesen, als sie noch in Newgale gelebt hatte, nicht weit von St. David’s entfernt. Sie war schon immer mehr ein Stadtmensch gewesen und hatte die Anonymität der grossen Menschenmassen genossen. Diese Intimität einer Kleinstadt behagte ihr nicht. Sie fühlte sich beobachtet, analysiert, verurteilt. Spürte die fragenden Blicke, die sie anklagten, warum sie noch keinen Mann habe, warum sie denn Karriere machen wollte, ob sie denn keine Familie gründen wolle. 

Natürlich, irgendwann wollte auch Rosalia einen Mann finden, mit dem sie ihr Leben teilen konnte. Aber sie wollte nun einmal nicht ihr persönliches Glück von der Anzahl Kinder, die sie ihm schenken würde, abhängig machen. Oder von der Grösse des Ringes, den er ihr anstecken würde. Sie wollte finanziell unabhängig sein und etwas Eigenes leisten, etwas, auf das sie stolz sein konnte. Für sie war schon in Hogwarts klar gewesen, dass sie gerne einen richtigen Beruf ergreifen wollte, nicht nur so einen, bei dem man einen wohlhabenden Mann kennenlernte. Sie wünschte sich, dass man zu ihr aufblickte, sie wollte stolz auf sich und ihre Leistungen sein und vor allem wollte sie auf gar keinen Fall die Frau von soundso sein. 

Mittlerweile war Rosalia auf der Hauptstrasse von St. David’s angekommen. Sie erinnerte sich, dass gleich hier an der Ecke die Löwenapotheke gewesen war. Natürlich hätte sie auch zu den Kräuterkundlern gehen können, die sie noch aus ihrer Kindheit kannte, aber zum einen war das Biotop an Wochenenden geschlossen, zum anderen konnte sie dann gleich noch andere Besorgungen in der Stadt machen. Ein weiterer Grund war, dass die Löwenapotheke von einem Magier geführt wurde, der auch eine Heilerausbildung genossen hatte. Sie wollte ihn um seinen Rat bezüglich ihrer Grossmutter bitten. Die Kräuterkundler waren zwar Fachleuchte, was Pflanzen anging, aber in Sachen Gesundheit vertraute Rosalia dann doch eher einem Heiler. 

Als sie gerade die Tür zur Apotheke aufstossen wollte, bemerkte sie einen dunkelhaarigen Mann, der die Gasse herunterlief. Er kam ihr seltsam bekannt vor. Kurz überlegte sie, dann erinnerte sie sich, woher sie ihn kannte. Sie rief: «Mr. Knight? Timotheo Knight?» und der Mann drehte sich zu ihr um. Kurz sah er verunsichert aus, dann erkannte er sie und kam auf sie zu. 

«Guten Tag, Miss…?», es schien ihm unangenehm zu sein, dass er ihren Namen vergessen hatte, denn er errötete leicht. Schnell half ihm Rosalia aus: «Rosalia de Vautart, Zaubergamot-Verwaltungsdienst. Wir kennen uns vom Fall Jeremiah Rider. Sie waren der Auror, der ihn schliesslich gefasst hat.» Das Gesicht des Mannes hellte sich auf, er schien sich zu erinnern. Dann fragte er sie: «Angenehm, Sie wieder zu sehen, Miss de Vautart. Ich wusste nicht, dass sie in der Gegend wohnen. Ich hatte Sie noch nie zuvor hier gesehen?»

Rasch antwortete Rosalia: «Nein, ich wohne eigentlich in London. Im Moment bin ich zu Besuch bei meiner Grossmutter, die erkrankt ist, um sie zu pflegen.»

Besorgt nickte Timotheo: «Ja, es geht etwas herum, die halbe Abteilung kränkelt und einige sind sogar ganz ausgefallen.» 

«Ja», sagte Rosalia, «deswegen wollte ich jetzt in die Apotheke, ein paar Heilmittel besorgen.»

Mr. Knight nickte wieder, dann entstand eine peinliche Stille, da er scheinbar nicht wusste, was er darauf noch sagen könnte. Schliesslich riss er sich zusammen und meinte: «Gute Besserung an ihre Grossmutter und noch ein schönes Wochenende. Miss de Vautart.» Er tippte sich an die Hutkrempe und ging von dannen. 

Leicht perplex starrte Rosalia ihm nach. Er schien ein sympathischer Mann zu sein, aber gleichzeitig ungeheuer schüchtern. Das war ihr schon bei der letzten Begegnung aufgefallen, wie befangen er mit Frauen schien. Doch anstatt weiter über Mr. Knight nachzudenken, betrat sie die Apotheke, deren Tür mit einem melodischen Klingeln aufging. 

In der Apotheke war es angenehm warm. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt und in den Regalen standen dicht an dicht grosse braune Flaschen mit seltsamen lateinischen Aufschriften, die Rosalia an die verhassten Zaubertrankstunden erinnerte. Sie verlangte, Mr. Herbarius zu sehen, den ältlichen Heiler, dem diese Apotheke gehörte. Rosalia meinte sich zu erinnern, dass die meisten Angestellten hier Muggel waren, da es einfach nicht genügend qualifiziertes Personal mit magischer Herkunft gab. Aber Mr. Herbarius war ein am St. Mungo-Hospital ausgebildeter Heiler und damit perfekt für ihr Problem. 

Als der kleine Mann mit den grauen Haaren aber überraschend jungem Gesicht hinter dem hohen hölzernen Tresen hervorkam, fühlte sich Rosalia sofort in ihre Kindheit zurückversetzt. Als sie klein gewesen war, waren sie regelmässig zu Mr. Herbarius gekommen, um Zutaten für Zaubertränke oder Heilmittel zu kaufen. Er hatte sich kein bisschen verändert und schien sie auch auf Anhieb zu erkennen. Aber klar, sie sah auch ihrem Vater recht ähnlich, der schliesslich in dieser Gegend aufgewachsen war. 

Nach einigen Begrüssungsworten schilderte sie ihr Problem und Mr. Herbarius nickte sorgenvoll. Er sagte: «Es geht im Moment etwas rum und es ist keine gute Zeit um krank zu werden!» 

Rosalia fragte sich innerlich, was er wohl damit meinte, fragte aber nicht weiter. Mr. Herbarius schien auch nicht gross auf seine Worte eingehen zu wollen und fing stattdessen an, verschiedene Glasflaschen und Holzdosen aufzuschrauben, Kräuter im Mörser zu zermahlen und Säfte zu vermischen.  

Zehn Minuten später und mit einem Päckchen voll Heilkräuter, Inhalationsöle und einem Hustensaft unter dem Arm trat Rosalia wieder auf die Strasse. Der Nebel hatte sich gelichtet und die Sonne hatte die Gasse nun endgültig erhellt. Raschen Schrittes lief Rosalia zurück zum Haus ihrer Grossmutter. Für heute hatte sie sich eine Menge Papierkram aus dem Ministerium mitgenommen, denn die Fragerei dieser St. Claire hatte sie auf das Thema der Letzten Walpurger neugierig gemacht. Sie war gespannt, was sie aus den Unterlagen herausfinden konnte.  

Als sie gerade das Gartentörchen öffnete sah sie im Nachbargarten eine junge Frau, wahrscheinlich etwa ihr Alter, mit einem kleinen Jungen an der Hand das Nachbarhaus verlassen. Rosalia kannte diese Frau nicht und hoffte, dass sie nicht auf einen langen Schwatz aus war, denn sie wollte sich unbedingt an die Arbeit machen. Doch die andere Frau kam zu ihr und stellte sich vor: «Guten Morgen, wir kennen uns noch gar nicht. Ich bin Amelia Thompson. Sie müssen Malvine Greengrass’ Grosstochter sein?»

Um nicht unhöflich zu sein, antwortete Rosalia: «Ja, mein Name ist Rosalia de Vautart. Sehr erfreut!»

«Wie geht es Ihrer Grossmutter? Ich habe sie länger nicht mehr gesehen?»

«Sie ist leider krank geworden, ich bin gerade auf dem Rückweg von der Apotheke.»

«Oh je,» sagte daraufhin Mrs. Thompson, «Ja, meinen Sohn Charlie hat es auch erwischt. Ich kann Ihnen sonst noch die Kräuterkundler am westlichen Stadtrand empfehlen.»

Rosalia meinte nur knapp: «Danke, von denen habe ich auch schon gehört. Ich muss jetzt auch schon wieder rein, meine Grossmutter wartet. Guten Tag.» Freundlich lächelnd, aber energisch nickte Rosalia der jungen Mutter zu und verschwand im Hauseingang. 

 

-


Tuppence war auf dem Weg durch Londons Strassen. Vorbei an Autos, die stinkend und wild hupend ihren Weg durch die engen Gassen suchten, vorbei an den Fussgängern, die stoisch ihren Samstagsgeschäften nachgingen. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, die sich vor einem Geschäft mit Ausverkauf versammelt hatte. Dann überquerte sie unter der Aufsicht eines Bobbys die Strasse.  Sie war auf dem Weg zu ihrer Mutter, die in Dover lebte. Doch zuerst musste sie zum nächsten Apparierplatz kommen. Das Ministerium hatte für das Apparieren in Städten mit mehr als tausend Einwohnern feste Regeln erlassen, zum Beispiel, dass es nur an bestimmten Orten erlaubt war. Davon gab es zwar viele, denn gerade London gab es haufenweise verlassene Gassen, unbeobachtete Plätze und abgelegene Gebäude. 

Und doch musste Tuppence von ihrer kleinen Wohnung in der Winkelgasse fünf Minuten laufen, denn der nächste Portschlüssel lag eine kurze Wegstrecke weit weg. Kurze Zeit später kam sie aber im Hinterhof des Tropfenden Kessels an, des neuen Pubs, von wo sie endlich nach Dover reisen konnte. Einen Wimpernschlag später stand sie nicht mehr vor der hohen Backsteinmauer, sondern in einem morgendlichen Park, in dem sich niemand befand und sie nur ein paar dicke Tauben schief anschauten und anfingen, auf die alte Blechdose einzupicken, die Tuppence gerade fallen gelassen hatte. 

In ihrer zügigen Art schritt Tup zum Ausgang der Grünanlage, öffnete das quietschende Tor und befand sich schon im Stembrook und gleich darauf in der Church Street. Zwei Minuten später stand sie vor einem der hohen Mehrfamilienhäuser aus dunkelrotem Backstein, dem mit der dunkelgrün lackierten Tür. Sie machte sich gar nicht die Mühe zu klingeln, sie wusste, dass ihre Mutter nie öffnete, wenn man die Türglocke betätigte. Stattdessen blickte sich Tuppence kurz um, ob jemand zuschaute, doch die Strasse war verlassen. Dann tippte sie mit ihrem Ahornstab an das Klingelschild, an dem «M. St. Claire» stand und im nächsten Moment öffnete sich die Haustür und Tuppence konnte die Treppen zum vierten Stock erklimmen. 

Marjorie wartete schon in der Tür auf sie. Sie war eine stämmige Frau, nicht pummelig, aber sie sah aus, als könnte sie nicht einmal der stärkste Sturm umwehen. Ihr kinnlanges Haar liess ihr Gesicht noch kantiger aussehen und doch verlieh ihr ihre gerade Nase etwas Elegantes, Damenhaftes. Tuppence unterdrückte ein Seufzen beim Anblick ihrer Mutter. Sie sah schon wieder älter aus als bei ihrem letzten Besuch und manchmal fragte sich Tuppence, ob sie den Falten auf ihrer Stirn beim Wachsen zusehen könnte, wenn sie nur die Geduld besässe, etwas länger zu warten. 

Mit einer kurzen Umarmung begrüssten sich Mutter und Tochter, dann betraten sie die Wohnung. Es war eng hier, aber dafür zahlte Marjorie nicht viel Miete. Als Arbeiterin in einer Munitionsfabrik am Hafen hätte sie sich auch nicht mehr als das eine Schlafzimmer leisten können. Marjorie ging in die Küche, die sich gleich an den Eingangsbereich anschloss und nahm den fiependen Teekessel vom Herd. Dann trug sie ihn in der Linken zum winzigen Küchentisch, während sie in der Rechten einen Teller mit selbstgemachtem Gebäck balancierte. Immer wenn Tuppence bei ihrer Mutter war, überkam sie der Drang, ihr mit ihrem Zauberstab etwas Arbeit abzunehmen, aber sie wusste, dass Marjorie das hasste. Es erinnerte sie nur an das Leben, das ihr verwehrt geblieben war. 

Schweigend setzten sich Mutter und Tochter und Tuppence nahm sich einen Keks, der zwar trocken aussah aber erstaunlich gut schmeckte. Ihre Mutter war schon immer in Haushaltsdingen talentiert gewesen. Klar, als einzige Squib in ihrer Familie hatte sie sich schon immer beweisen müssen, hatte schon immer allen zeigen müssen, dass sie nicht so untalentiert war, wie sie schien. Und war doch immer eine Ausgestossene geblieben. Natürlich hatten ihre Eltern sie nicht gezwungen, in der Dosenfabrik zu arbeiten, natürlich hatten ihre Geschwister sie nicht absichtlich geärgert, wenn sie in den Sommerferien stolz von ihrer wundervollen Zeit in Hogwarts erzählten. 

Und doch hatte Marjorie viel Leid und einsame Tage durchlebt, als sie von ihren Eltern, beide reinblütige Zauberer, auf eine Mädchenschule für Muggel geschickt worden war. Und schliesslich hatte sich Marjorie entschieden, ihrer Familie den Rücken zu kehren und sich ein eigenes Leben aufzubauen. Die Einzige, zu der sie noch Kontakt hatte, war Tante Prudence, aber die kannte Tuppence nicht. Ihre Mutter sprach nur selten von der Familie, die sie nie hatte, aber wenn, dann ging es immer um Tante Prudence. 

Schliesslich ergriff ihre Mutter das Wort: «Wie geht es dir, Tuppence?»

Artig antwortete Tuppence, dass es ihr sehr gut ginge. Sie überlegte gerade, ob sie von ihrer Arbeit erzählen sollte, von der spannenden Geschichte, an der sie gerade dran war, denn sie wusste, dass ihre Mutter weder magisches Radio hörte, noch dem Tagespropheten folgte. Aber dann verkniff sie es sich, denn sie wollte ihre Mutter weder traurig machen noch verärgern. 

Ihre Mutter half ihr aus, indem sie unsicher fragte: «Und das Shortbread, schmeckt es? Ist es auch nicht zu trocken? Ich hatte den Eindruck, dass es etwas arg krümelig geworden ist…» Sie liess ihren Satz ausklingen, als wären ihr die Worte ausgegangen, wie so oft. Tuppence seufzte noch einmal innerlich auf. Ihre Mutter hatte einfach niemanden zum Reden, war zu einsam, weswegen sie immer übermässig nervös war, wenn sie dann doch einmal Besuch bekam. Alle zwei Wochen apparierte Tuppence nach Dover, um ihre Mutter zu sehen und doch, das Alleinsein und die körperlich harte Arbeit schienen ihrer Mutter nicht zu bekommen. Doch was sollte Tuppence tun? Ihre Mutter zu sich nach London zu nehmen, war keine Option, denn das hätte ihre Mutter nur jeden Tag daran erinnert, dass ihre Tochter eine Hexe war und sie nicht. 

Ausserdem hätte ihre Mutter Schwierigkeiten gehabt, in London einen Job zu finden, denn sie hatte keine Ausbildung genossen. Tuppence vermutete, dass sie immer gehofft hatte, von ihrer Familie ausgehalten zu werden oder einen Zauberer zu treffen, der für sie sorgen konnte, denn Marjorie hatte sich einfach mit keinem Muggel-Beruf anfreunden können. Sie hatte ihr mal anvertraut, dass sie gerne Aurorin geworden wäre, was sich Tuppence bei ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn gut vorstellen konnte. Doch es gab nun einmal keine Muggel-Auroren, vor allem keine weiblichen. Und so beendete Marjorie die Schule ohne grosse Vorstellungen von ihrer Zukunft. Bis sie Emil Brown, Tuppence’s Vater getroffen hat. Ein Muggel, ein armer Kerl, ohne einen Penny in der Tasche, aber den Kopf voll mit Träumen und Idealen. Nun, dummerweise starb der kurz darauf, noch bevor er seine kleine Tochter hätte kennenlernen können und Marjorie war wieder alleine, aufs Neue verlassen. 

Doch immerhin hatte sie nun ein Kind, um das sie sich kümmern konnte und Marjorie arbeitete hart um ihrer Tochter das bestmögliche Leben zu bieten. Doch als es für Tup an der Zeit war, ihre Flügel auszubreiten und nach Hogwarts an die Schule für Hexerei und Zauberei zu gehen, hatten sich die beiden entfremdet. Denn Marjorie hatte endlich die Chance gesehen, all ihre Träume in Tuppence wahr werden zu lassen. Doch diese Begeisterung, der Wunsch, das Beste aus ihrem Leben zu machen, hatte Penny regelrecht erdrückt. Und es war mehr als einmal zum Streit zwischen den zwei Frauen gekommen. Und auch wenn Tuppence immer ein wenig traurig von der Schwermütigkeit ihrer Mutter nach Hause kam, sie konnte nicht anders als sie regelmässig zu besuchen.

Tuppence hatte nur mit halbem Ohr zugehört was ihre Mutter sagte, doch jetzt horchte sie auf. 

«Und dann hat mir diese Woche noch Prudence geschrieben. Sie würde dich gerne kennenlernen.» 

Tuppence schwieg. Es war das erste Mal, dass jemand aus der Familie ihrer Mutter Kontakt zu ihr suchte. Natürlich, Tante Prudence war in den Geschichten ihrer Mutter immer die Freundlichste, Verständnisvollste und Toleranteste gewesen, die Witzigste und die Gutherzigste. Aber sie hatte ihre Mutter nie zu sich eingeladen und sie hatte nie versucht zu Tuppence Kontakt aufzunehmen. Und jetzt auf einmal? Was das wohl zu bedeuten hatte?

«Ich gebe dir Prudences Adresse, dann kannst du ihr schreiben.»

Tuppence verzichtete darauf ihrer Mutter zu erklären, dass eine Eule von der Eulenpost ihre Tante vermutlich auch so finden würde. Marjorie kritzelte auf ein Blatt Papier, dann schob sie den Zettel mit der Adresse über den Tisch zu Tuppence. Diese warf kurz einen Blick darauf. Prudence St. Claire, Catherine Street 6, St. David’s, Wales stand dort geschrieben. Und auch wenn Tuppence noch nicht wusste, was sie von dieser Kontaktaufnahme halten sollte, so war sie doch auch neugierig, was wohl dahinterstecken mochte. 

 

-


Nach dem Frühstück sagte Septimus seiner Tante Lebewohl. Natürlich musste dies in Arielles Stil erfolgen. Mit dem halben Angestelltenstab versammelt, alle der Grösse nach aufgereiht im grossen Kaminzimmer und einer tränenreichen Umarmung seiner Tante, als würde er an die Front ziehen und nicht nur an die Küste. Als er sich schliesslich aus ihrer Umklammerung befreien konnte, warf er eine Handvoll Flohpulver in die Flammen des riesigen Kamins, sprach laut und deutlich seinen Zielort, dann schritt er in das grün leuchtende Feuer und war verschwunden. 

Als er seine Augen, die er zum Schutz vor Russ und Rauch geschlossen hatte wieder öffnete, stand er im Wohnraum seines Häuschens in St. David’s. Er hustete und hörte einen spitzen Aufschrei und ein Klirren von zerspringendem Porzellan. Septimus blickte sich um und sah ein junges Mädchen, bleich wie die Wand. Offensichtlich seine Haushälterin und offensichtlich hatte sie nicht erwartet, ihn aus den Flammen kommen zu sehen. 

Mit tiefrotem Gesicht versuchte das Mädchen die Scherben mit den Händen zusammenzukehren, dann besann sie sich und huschte zu ihm, verfiel in einen tiefen Knicks und murmelte: «Master Septimus, Sir.»

Septimus verkniff es sich den Kopf zu schütteln. Das sah seiner Tante ähnlich, ihm so jemanden zu schicken. Überehrfürchtig und übervorsorglich. Septimus rechte Hand zuckte und das Mädchen sah dies offensichtlich als Aufforderung sich zu erheben. Ins Gesicht sah sie ihm trotzdem nicht. Er sprach sie an: «Sie sind Nellie Stalford?»

Das Mädchen nickte und murmelte: «Ja, Sir.»

Septimus sah sie genauer an. Sie war nicht gerade hübsch, aber ihr Gesicht hatte trotzdem, auf unscheinbare Art etwas Anziehendes an sich, etwas, dass ihn neugierig machte. Etwas anderes fiel in sein Blickfeld und er bemerkte, dass sie sich in die Hand geschnitten hatte. 

«Sie haben sich geschnitten.» Als ob sie das nicht schon selbst bemerkt hätte. Der Rotton ihrer Wangen verdunkelte sich noch, es sah irgendwie niedlich aus. «Verzeihung, Sir. Mir ist ein Teller heruntergefallen. Es wird nicht wieder vorkommen und natürlich werden Sie mir den Preis vom Lohn abziehen…» fing sie an, doch Septimus unterbrach sie: «Unsinn, jetzt versorgen wir erstmal Ihre Finger und dann kümmern wir uns um den Teller. Sie können ihn sicher reparieren.» 

Das Mädchen nickte nur. Septimus stellte seine lederne Reisetasche ab und zog seinen Reiseumhang aus, warf ihn über das Sofa, dann fasste er Miss Stalford bei der Schulter und schob sie in die Küche, vorbei an dem kleinen Scherbenhaufen am Boden. Er wies seine Haushälterin an sich zu setzen, zog seinen Zauberstab aus seinem Gürtel und schwang ihn über ihre Hände. Mit den Worten «Episkey» stoppte die Blutung, die Wundränder wurden krustig und schmolzen schliesslich zusammen, bis nur noch feine, rote Linien blieben.  

«Kümmern Sie sich um den Teller, Miss Stalford?» fragte Septimus und wandte sich schon seinem Gepäck zu, um es in sein Schlafzimmer zu tragen. Das Mädchen nickte scheu, zog einen knorrigen Zauberstab hervor und murmelte «Ratzefix. Ääh, nein, Ratzeputz»

Doch nichts schien zu passieren. Septimus blickte sie überrascht an. Konnte dieses Mädchen etwa nicht zaubern? Natürlich, magische Hausmädchen waren allgemein nicht für ihr überragendes Hexerei-Talent bekannt, sonst wären sie Aurorinnen, Heilerinnen oder Professorinnen geworden. Und doch, von einer Haushälterin musste man doch zumindest gewisse Fähigkeiten in Sachen Haushaltszauber erwarten können, oder etwa nicht? 

«Können Sie etwa nicht zaubern?» fragte Septimus darum erstaunt. Nun wurde das Mädchen bleich. Sie antwortete zögerlich: «Nicht sehr gut.»

Septimus rieb sich über die Augen. Das konnte ja heiter werden. 

 

-


Laut und tief läuteten die Glocken zum Sonntags-Gottesdienst. Armando schritt gelangweilt hinter seinen Eltern in die Kirche. Kurz dachte er daran, dass auch er wohl noch dieses Jahr in ebendieser Kirche den Gang zum Altar wagen würde, doch er verwarf diese unangenehme Vorstellung gleich wieder. St. David’s mochte ein kleiner Ort sein und doch hatte diese Kleinstadt eine eigene Kathedrale. Sie war allerdings eher klein und wenig pompös, dafür aber mit beeindruckenden Glasfenstern geschmückt, eine Spende von Armandos Grossvater, Howard Newton. Hatte wohl gedacht, er könne sich mit ein paar bunten Fenstern etwas Seelenheil erkaufen, dachte sich Armando schnaubend. 

Er selbst glaubte nicht an Gott. Er glaubte an harte Arbeit und dass man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen musste. All dieses Gelaber, dass Gott einem den richtigen Weg zeigen würde und seine schützende Hand über einen halten würde, hielt er für Humbug. Und doch war er jetzt hier, denn für die Newtons, Grossgrundbesitzer und die reichste Familie der Gegend, gehörte es zum guten Ton, sich wöchentlich im Gottesdienst blicken zu lassen. Normalerweise schob Armando irgendwelche Ausreden vor, um nicht mitkommen zu müssen, aber als Erbe seines Vaters hatte er trotzdem ab und zu zu erscheinen. 

Die Newtons waren an der ersten Reihe der harten Holzbänke angekommen und nahmen Platz. Seine Mutter trug ein elegantes dunkelgrünes Kleid und einen kleinen Hut, während sein Vater im dunklen Anzug gekommen war. Die beiden sahen so unglaublich unantastbar aus, dass es selbst ihn schauderte. Armando griff sich eines der Gesangsbücher und gab vor, in den dünnen Seiten nach den richtigen Liedtexten zu suchen. In Wirklichkeit hatte er einfach keine Lust sich mit irgendjemandem zu unterhalten, während seine Eltern hier und da Leuten zunickten, kurz grüssten oder sogar ein paar Worte mit wohlausgewählten Gesprächspartnern austauschten. 

Schliesslich begann der Gottesdienst. Da Armando seit seiner Jugend von seinem Vater zu diesem sozial-religiösen Anlass geschleppt worden war, kannte er die Gebete und die Lieder in und auswendig, weswegen er einfach an den richtigen Stellen die Lippen mitbewegen konnte, ohne seine Aufmerksamkeit gross dem Geschehen zuwenden zu müssen. 

Er nutzte die Zeit, um sich unauffällig umzusehen. Da er in der ersten Reihe sass war das gar nicht so einfach, aber auf der anderen Seite des Ganges, auch in der ersten Reihe, sass eine junge Frau mit einem kleinen Jungen neben sich. Der Junge schien sehr wohlerzogen, denn anstatt den Gottesdienst zu stören, blätterte er munter im Gesangsbuch und bewegte dabei lautlos die Lippen, als würde er lesen. Armando stellte sich vor, wie er mit Louise einen kleinen Jungen haben würde. Ob sie auch in die Kirche gehen würden? Vermutlich. War Louise eigentlich religiös? Wahrscheinlich, schliesslich gehörten sich doch Wohltätigkeitsarbeit und Frommigkeit für junge Damen, oder etwa nicht? 

Irgendwie langweilte ihn die Vorstellung, auch wenn ihm der Gedanke an einen kleinen Jungen gefiel. Allerdings mehr in Hinsicht auf das, was er ihm alles beibringen könnte. Er könnte mit ihm reiten gehen, er auf seinem Hengst und das Kind auf einem Pony vielleicht. Oder mit ihm Quidditch spielen. Sein Vater hatte natürlich nie mit ihm gespielt, weder magische noch unmagische Spiele, und selbstverständlich war es ihm nicht erlaubt gewesen, im Garten auf einem Besen zu fliegen, auch wenn die Ländereien zu Berkley Park gigantisch waren. Aber er könnte seinem Kind all die Dinge zeigen, die ihm selbst in seiner Kindheit verwehrt gewesen waren. Doch da gab es immer noch ein Problem. 

Louise wusste nichts von seinen besonderen Fähigkeiten. Und was, wenn ihr Kind nicht magisch sein würde? Armando dachte kurz darüber nach. Das erste konnte sich zu einem ernsthaften Problem ausweiten, das zweite wäre okay für ihn. Natürlich wünschte er sich, dass sein Sohn nach Gryffindor ginge, so wie er, aber am Ende könnte er wohl auch ohne das leben. Doch wie sollte er seiner Verlobten erklären, dass er für eine Parallelregierung arbeitete und mit einem hölzernen Stab magische Tricks vollführen konnte?

Armando atmete tief durch. Kommt Zeit, kommt Rat, dass sagte seine Mutter immer. Sein Blick fiel auf die junge Dame neben dem Jungen, offensichtlich seine Mutter. Sie hatte den Blick gesenkt und schien tief ins Gebet versunken. Ihre Wangen schienen etwas eingefallen und unter ihren Augen waren dunkle Schatten zu erkennen. Trotzdem war sie hübsch. Sie hatte dunkles Haar. Armando wusste nicht warum, aber Brünette hatten schon immer eine besondere Anziehung auf ihn gehabt. Louise war blond. Nun, das war nun einmal nicht zu ändern. Er würde schon darüber hinwegkommen. Und doch fragte er sich, ob das Haar der jungen Frau genauso weich war, wie es aussah und ob es wohl gut roch?

Unwillig schüttelte er kurz den Kopf, was ihm einen missbilligenden Blick seines Vaters einbrachte, den er ignorierte. Warum zum Teufel sass er hier, in einem Gottesdienst, der ihn nicht interessierte und dachte über die Haare einer fremden Frau nach, wenn er doch mit einer anderen verlobt war? Was war nur los mit ihm? Es war ihm in den letzten zwei Tagen schon mehrfach aufgefallen, dass er, egal wo er hinging, anderen Frauen nachstarrte wie ein Teenager und sich vorstellte, wie sich wohl ihre Haut anfühlte oder wie es wohl schmecken würde, wenn er sie küssen würde. Nur hatte er solche Gedanken nie mit seiner Verlobten.

Er blickte nun nach links, in die andere Richtung, weg von der jungen Mutter. Dort, auf der Empore, war weniger los. Ihm fiel ein junges Mädchen ins Auge mit heller Haut und dunklen Zöpfen, sie schien eine Magd zu sein ihrer Kleidung nach zu urteilen. Andächtig hielt sie das Gesangsbuch vor sich und sang mit geschlossenen Augen das Halleluja, das gerade durch die gesamte Kathedrale schallte. Die Arme, sie sah so wahnsinnig unschuldig und fromm aus. Die glaubt bestimmt jedes Wort, das da vorne vom Priester gesprochen wird, dachte sich Armando zynisch. Und eines Tages wird sie feststellen, dass es keinen Gott gibt, der ihre Träume erhört oder sie vor der Grausamkeit des Lebens beschützt. 

Der Priester hatte nun begonnen den Segen für die Woche über die Gläubigen zu sprechen, was bedeutete, dass diese Tortur nun jeden Moment vorbei sein musste. Schliesslich war die Messe tatsächlich vorbei und Armando schritt langsam den Gang entlang Richtung Ausgang, immer freundlich lächelnd und Nettigkeiten mit den anderen Kirchengängern austauschend. Die junge Mutter war in der Menge verschwunden und auch das Mädchen mit den langen dunklen Zöpfen war weg. In diesem Moment packte ihn seine Mutter am Arm und zog ihn in ihre Richtung, direkt zu der jungen Dame mit dem kleinen Jungen. 

«Armando,» sprach sie, «Du musst unbedingt Mrs. Amelia Thompson kennenlernen. Sie ist die Ehefrau von Isaac Thompson, der im Ministerium arbeitet. Du müsstest ihn eigentlich kennen?»

Wage erinnerte sich Armando, ein- oder zweimal mit einem Mr. Thompson Kontakt gehabt zu haben. Er nickte langsam und seine Mutter ersparte ihm weitere Worte. 

«Ich versuche gerade, Mrs. Thompson für meinen Verein "Mittagessen für die Schulkinder von St. David’s" zu gewinnen. Das wäre doch ganz entzückend, nicht wahr, Amelia, meine Liebe? Wo Sie doch selbst einen so niedlichen Kleinen haben. Das tut Ihnen gut, meine Liebe, das bringt Sie unter die Leute, damit Sie nicht so in ihrem Häuschen versauern.»

Mrs. Thompson sah etwas überrumpelt aus und Armando fiel nichts besseres ein als höflich zu nicken. Er wollte sich gerade abwenden, als er im Umdrehen mit jemandem zusammenstiess. Es war die junge Magd, die er auf der Empore gesehen hatte. 

«Passen Sie doch auf, wo Sie hinlaufen!» fauchte Armando und warf ihr einen wütenden Blick zu. Das Mädchen sah ihn verschreckt an, wie ein Reh, dass einem Jäger in die Flinte blickt. 

«Das war ja wohl ganz offensichtlich Ihre Schuld, Mr. Newton!» schritt da schon Mrs. Thompson energisch ein. Zu verblüfft um sie ebenfalls böse anzuschauen sah ihr Armando nur nach, während sie bereits das junge Ding am Arm nahm und hinter sich her in die Menschenmenge zog, ihren kleinen Jungen an der anderen Hand. Und obwohl es ihm eigentlich ganz egal sein konnte, was eine wildfremde Frau von ihm hielt, fühlte sich Armando trotzdem schlecht, dass er sich so ungebührlich verhalten hatte. 

 

-


Charlie war endlich für seinen Mittagsschlaf eingenickt, sodass Amelia einen Moment zum Durchatmen und Nachdenken hatte. Noch immer ging ihr der Anblick des zuckenden Jungen nicht aus dem Kopf, den sie mit Charlie auf dem Feld gesehen hatte. Wie er da gelegen hatte und seine Schwester so hilflos! Ihr war sofort klar gewesen, dass der kleine Robert wohl ein Seher sein musste. Wie furchtbar für ihn, so eine Gabe war wahrlich mehr Fluch als Segen. Sie hatte zwar noch nie einen Seher getroffen, hatte aber einst in einem Lehrbuch über magische Krankheiten, Gebrechen und Abnormitäten darüber gelesen, dass ihr Hauslehrer ihr gegeben hatte. Diese Krankheit war nicht heilbar und sie schien zum Teil überaus unangenehm zu sein. Doch das erklärte immer noch nicht, warum das Mädchen, Miss Goldstein, so erschrocken geschaut hatte und so schnell mit ihm disappariert war. War da mehr dahinter? Doch was hatte sie schon zu befürchten?

Amelia beschloss, mehr über Seher herauszufinden und auch über das Geheimnis des armen Robert. Es war lustig, da war sie die letzten Tage so unendlich deprimiert gewesen und ausgerechnet diese Geschichte holte sie nun aus ihrer Lethargie. Vielleicht, weil sie Robert Goldstein so sehr an ihren eigenen Sohn erinnerte. 

Dann wandte sie ihre Gedanken etwas weitaus Wichtigerem zu. Robert hatte von toten Menschen gesprochen. Wie war das gewesen? Menschen ohne Köpfe. Köpfe ohne Menschen. Menschen, Arme, Beine.Das klang definitiv nicht gut. Eine Armee der Toten. War damit der Krieg auf dem Festland gemeint? Und dann der letzte Satz: Sie kommen. Das klang sehr unheimlich und auch jetzt lief Amelia noch immer ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie nur daran dachte. Was bedeutete das? Waren sie in Gefahr? Natürlich kannte Amelia die Goldsteins fast nicht, hatte sie vor zwei Tagen das erste Mal getroffen. Und doch zweifelte sie nicht eine Sekunde daran, dass wahr werden würde, was Robert gesagt hatte. Und sie fragte sich unwillkürlich, was das für ihren Mann und ihren Sohn bedeutete.

PLACES

 

St. David's

Septimus' Haus

Howard's Hausrat

Apotheke 

Kathedrale

PEOPLE

Nellie Stalford

Flora Griffin

Rosalia de Vautart

Timotheo Knight

Amelia Thompson

Tuppence St. Claire

Septimus Weasley

Armando Newton

PEERS

Nathalia Howard

Attico Herbarius

Marjorie St. Claire

Arielle Weasley

Cassiopeia Newton

Arthur Newton

PAIRS

"das leere Haus"

HISTORY

6./7. Januar 1940

Samstag/Sonntag

"In den USA werden Maßnahmen zur Erweiterung der Bundespolizei getroffen, um verschärft gegen Spionage und Sabotage vorgehen zu können."

bottom of page