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Anja Garbarek - I won't hurt you

 

"At the End of the Tunnel"
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Bäume, Felder, mehr Bäume, ein Dorf, Tunnel, ihr eigenes Gesicht, Ende des Tunnels, Bäume, Felder. Elise hatte schon seit einer Weile vergessen, wie lange sie bereits aus dem Zugfenster schaute. Das Buch, The mysterious affair at Styles, von einer bekannten britischen Autorin hatte sie schon länger vergessen auf ihren Schoss gelegt. Sie hatte sich angewöhnt, Bücher auf Englisch zu lesen um ihr Vokabular und ihre Grammatik zu verbessern, aber mit ihrer Aussprache half ihr das leider nicht.

«Wann gehen wir zurück zu Tante Fanny?», fragte Bo.

«Ich hab dir doch erklärt, wir machen einen Ausflug aufs Land. Das wird schön, fast wie daheim in …», sie verschluckte im letzten Moment das Wort und schaute sich hektisch um. Hatte sie jemand gehört? Jemand an ihrem starken Akzent erraten, dass sie nicht britisch war? Vielleicht der Mann mit dem gewaltigen Schnauzer, schräg gegenüber von ihnen, der gerade den Kopf schüttelte als er die Zeitung umblätterte? Oder die hasengesichtige Dame, eine Reihe weiter, mit der kleinen spitzen Nase, die konzentriert einen Socken strickte? Nein, es war alles gut, alles war gut, versuchte sie sich zu beruhigen. Keiner wusste, wer sie waren.

Sie waren Robert und Eliza Goldstein aus London, die von ihrer Tante Fanny Leighton, die sie nach dem Tod ihrer Eltern adoptiert hatte, nach St. David’s aufs Land geschickt worden waren, da die britische Regierung Luftangriffe befürchtete und darum alle Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Sicherheit brachte. Zwei Kinder, verängstigt und alleine, aber absolut unschuldig. Es war definitiv nichts Verdächtiges oder Auffälliges an ihnen. Wenn doch nur ihre Aussprache besser gewesen wäre. Bo fiel das leichter, er hatte das Englisch ihrer Tante wie ein Schwamm aufgesogen und klang schon fast wie ein echtes Londoner Kind. Doch Elise war kein kleines Kind mehr, sie war zu alt, um eine Sprache einfach aufzunehmen, sie musste sie mühselig lernen.

In diesem Moment klappte der Schnauzer-Mann seine Zeitung zusammen, verstaute sie feinsäuberlich in einem Aktenkoffer und schaute einen Moment aus dem Fenster auf die graubraunen Felder, die jetzt Anfang Januar natürlich brach lagen. Dann wandte er sich ihr zu, verzog, das haarige Gesicht zu einem breiten Lächeln und fragte sie etwas in einem absolut unverständlichen Dialekt.

«Pardon?», fragte Elise fast schon panisch, während sie spürte, wie sie anfing zu schwitzen.

«Und wohin reisen Sie, junges Fräulein?», fragte der Mann, diesmal in einem verständlicheren Englisch.

Oh nein, was sollte sie sagen, was sollte sie tun? Elise spürte, wie der Schweisstropfen, der sich zwischen ihren Schulterblättern gebildet hatte, ihr unangenehm unter ihrem losen Kleid den Rücken hinunterrann.

«Ähh… Ich… also wir… wir reisen nach St. David’s…» stotterte sie. Ihr war vollkommen bewusst, dass jeder sofort hören würde, dass sie nicht in England geboren war. Konzentrier dich, erinnere dich an die Geschichte, du kannst das. Du hast sie auswendig gelernt.

«Mmmh, dann steigen sie wohl in Haverfordwest aus? Genau wie ich, ich komme aus Solfach, wie kommen sie in dieses verschlafene Nest junge Dame?»

Elise wusste weder wo Haverfordwest lag noch was für eine Art Stadt oder Dorf Solfach war. Das einzige, was ihr Fanny gesagt hatte, war, dass sie an der Endstation von einem Mr. Garrick Ollivander abgeholt werden würden. Deswegen nickte sie nur vage und hoffte, Mr. Schnauzbart würde wieder Interesse an seiner Zeitung finden.

«Wir werden am Meer leben genau wie früher und kratzige Pullover aus frischer Wolle anziehen», krähte Bo bevor ihre Wünsche war werden konnten.

«Aha, und wo haben sie denn früher gelebt, junger Herr?», fragte Bartgesicht interessiert.

«Pom…», fing Robert an doch Elise ging geistesgegenwärtig schnell dazwischen: «Polen», sagte sie mit einem gewinnenden nichtssagenden Lächeln. «Wir kommen von der polnischen Küste», und hoffte gleichzeitig, dass der Waliser nicht zwischen einem deutschen und polnischen Akzent unterscheiden konnte. Doch der freundliche Herr schien sich damit zufrieden zu geben.

«Und was treibt sie ans Ende der zivilisierten Welt, meine Liebe?», bohrte er trotzdem weiter.

Endlich, eine Frage, auf die Elise eine Antwort wusste. «Unsere Adoptivmutter fand, dass die Landluft meinem Bruder besser bekommen würde. Er kränkelt immer so. Ausserdem hält es die Regierung für unsicher in der Stadt und hat deswegen begonnen, alle Kinder aufs Land zu schicken» spulte sie wie auswendig gelernt herunter. «Ja, ja, da hat der Herr Premierminister vielleicht sogar Recht» nickte der Schnauzbart und wandte sich endlich, endlich wieder seiner Zeitung zu, die er unter viel wichtigem Gehabe aus seiner Aktentasche hervorzog und kopfschüttelnd den nächsten Artikel zu lesen begann.

Elise blickte aus dem Fenster. Felder, Schafe, weniger Bäume, Felder, Dorf. Dazwischen ihr eigenes Gesicht, verschwommen, als wäre sie mit der graugrünen Landschaft verschmolzen, eins, ein Naturlebewesen, eine Urgewalt, die sie verfolgte, heimsuchte. Auf einmal konnte Elise den Anblick nicht mehr ertragen und wandte sich abrupt ab. War ihr das schon einmal passiert, dass ihr eigenes Spiegelbild ihr so zuwider war?

Oder war es die Schuld, die Verantwortung, die zentnerschwer auf ihren schmalen Schultern lastete? Vielleicht lag es aber auch an der Umgebung, die so sehr aussah wie ihre pommersche Heimat.

All die Felder, die Schafe, wie plüschige Schneeflocken auf grünbraunem Grund. Die kleinen Dörfer, dich gedrängt beieinander, als würden sie sich so gegenseitig Schutz bieten vor den grausamen Naturgewalten, die diese karge, arme Landschaft heimsuchte. Die dürren, blattlosen Bäume, die ihre Äste wie abgestorbene knochendürre Arme in den grauen Himmel reckten.

Als Elise und Robert Funkenau verlassen hatten war es Sommer gewesen, die wenigen Bäume an der Küste hatten grosse dunkelgrüne Blätter getragen.

Nach einer kurzen Weile, in der Elise vorgab zu lesen, aber in Wirklichkeit nur auf die Buchstaben starrte und Bo mit einem kleinen Zinnsoldaten spielte, wurden aus den ärmlichen Hütten grössere Häuser, die matschigen Wege wurden zu gepflasterten Strassen und statt Schafen bevölkerten Autos und Pferdekarren die Umgebung. Der Zug wurde mit einem lauten Quietschen langsamer und kam schliesslich unter einen grossen Stahlkonstruktion, die der Bahnhof von Haverfordwest sein musste, zum Stehen.

«Endstation», brüllte ein Schaffner langgezogen. «Komm, Bo», forderte Elise ihren Bruder auf, «nimm deinen Koffer.» Zwei kleine Handkoffer, ein Buch, ein Zinnsoldat, die Kleidung, die sie am Leibe trugen. Das war alles, was sie noch besassen. Es war nicht viel, aber auf jeden Fall mehr als die Gefangenen in den Lagern im deutschen Reich hatten.

Elise nahm den kleinen blonden Jungen an der Hand und zog ihn mit sanfter Gewalt aus dem Zug, damit er schneller lief. Sie hatte unendliche Angst, dass ihr Kontaktmann ohne sie abfahren würde, wenn sie ihn nicht schnell genug fand. «Auf Wiedersehen» rief sie noch schnell Mr. Bartwuchs über die Schulter zu, dann waren sie schon in der dichten Menschenmenge, die sich um den dampfenden Zug versammelt hatte, verschwunden.

Wie nur sollte sie Mr. Ollivander erkennen? Sie wusste, dass er ein Zauberer sein musste, denn das Zaubereiministerium würde niemals magische Kinder an nichtmagische Pflegeeltern vermitteln, zu gross wäre das Risiko der Aufdeckung. Doch das nützte ihr jetzt sehr wenig. Sie konnte schliesslich nur schlecht ihren Zauberstab hervorziehen und wie ein aufgescheuchtes Huhn damit herumwedeln.

Das Beste wäre wahrscheinlich, wenn sie nach einem alleinstehenden älteren Mann, der er wahrscheinlich war, Ausschau hielten und dabei möglichst verloren dreinblickten.

Während sie noch langsam das Gleis entlang lief packte sie auf einmal eine Hand am Unterarm. Blitzschnell und zu Tode erschrocken drehte sich Elise um. Die Hand gehörte einem jungen Mann und sie war erstaunlich schmal und fein gebaut. «Was zum…» fing Elise an aber der Mann unterbrach sie unwirsch: «Eliza und Robert Goldstein?» - «Äh, ja…» antwortete Elise verdutzt, dass der Fremde sie kannte und auch erschrocken. War er am Ende Polizist?

«Kommt mit» schnauzte der Mann und ohne sich noch einmal umzudrehen marschierte er davon. Elise blickte kurz herunter zu Bo, der sie fragend anschaute, dann eilte sie dem hageren Mann hinterher.

Erst als sie bei einem alten Pferdekarren ankamen, drehte sich der magere Mann wieder zu ihnen um. «Walisisch sprecht ihr ja nicht?» fragte er gereizt. «Ähh, nein, wir…» fing Elise an, aber der Mann hörte ihr schon gar nicht mehr zu, sondern grummelte etwas in seinen imaginären Bart und band das alte Kutschpferd los. Schnell packte Elise ihren und Roberts Koffer auf die Ladefläche, hob ihren Bruder auf den Lastkarren und setzte sich neben ihn auf das raue Holz, in dem Moment, als der Mann auch schon das Pferd zum loslaufen antrieb. «Sind Sie Mr. Garrick Ollivander?» wollte Elise höflich wissen. «Wer zum Teufel würde euch den sonst umsonst mitnehmen?» knurrte der in einen grauen Mantel gehüllte Mann. Daraufhin traute sich Elise nicht weitere Fragen zu stellen.

«Ich hatte gedacht ihr seid jünger. So kleine Bälger, die den ganzen Tag weinen und nach ihren Müttern schreien. Aber du, du weinst nicht mehr, oder?» schnarrte er sie mit einem Gesichtsausdruck an, als wollte er sie herausfordern genau jetzt und hier in Tränen auszubrechen. Elise wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte also sagte sie nur: «Ich bin sechzehn», aber Ollivander schien ihr schüchternes Gemurmel gar nicht wahr genommen zu haben.

Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, Bo war auffallend still. Das war nie ein gutes Zeichen, normalerweise wurde das ohnehin schon ernste und schweigsame Kind besonders vor Anfällen noch stiller. Bitte, bitte nicht, betete Elise stumm. Nicht gleich am ersten Tag bei diesem komischen Kauz.  

Nach einer knappen halben Stunde weitete sich der erdene Pfad in eine grob gepflasterte Strasse, und nachdem sie eine schmale Brücke, die über einen kleinen Bach führte, überquert hatten, erreichten sie bereits die ersten wild zusammengezimmerten und windschiefen Häuser. Dies musste St. David’s sein. Sie zockelten langsam die Hauptstrasse entlang und Elise konnte nicht umhin, eine gewisse Neugierde für diesen Ort zu empfinden.

Klar, sie war einigermassen verängstigt, nervös, beunruhigt, ein Strudel an Emotionen drohte sie zu verschlingen. Sie war tausende Meilen von ihrer Familie und ihren Freunden entfernt, verstand die Sprache kaum, und dazu kam die Angst vor ihren Verfolgern. Und trotzdem freute sie sich auch über ihr zukünftiges Leben im Nirgendwo, wo sie sich endlich wieder frei bewegen konnten, nicht mehr eingesperrt waren in der kleinen Wohnung ihrer Tante, und endlich wieder leben konnten. Schon seit einer Weile war ihr dieser Gedanke durch den Kopf gegeistert.

Was war das Leben eigentlich wert, wenn man es nicht leben konnte? Doch sofort schalt sie sich innerlich, ihre Tante hatte ihr Möglichstes getan, um sie am Leben zu halten, zu beschützen vor allem Bösen, dass da draussen auf sie wartete. Es war undankbar, sich zu beschweren, dass sie nicht tun und lassen konnte, was sie wollte. Aber hier, hier in diesem Kaff standen ihr alle Türen offen, konnte sie sich endlich entfalten, vielleicht sogar einen Beruf erlernen, ihre Möglichkeiten auskosten. Hier war sie frei wie ein Vogel und sie hatte nicht vor, sich diese Freiheit nehmen zu lassen.

Elise atmete tief durch, roch das Salz, den faulig-fischigen Geruch, kostete den Geschmack von Schlamm und nasser Schafwolle auf ihre Zunge, spürte die feucht-kalte Luft auf ihrem zarten Gesicht und fühlte, wie kleine Schneeflocken auf sie herabregneten und ihre Haut wie winzige Eispfeile zu durchbohren schienen. Ja, es war lange her gewesen, dass sie sich so lebendig gefühlt hatte. Aber sie lebte, sie lebte, sie lebte und sie war dankbar dafür. Am liebsten hätte sie vor Lebensglück und Übermut geschrien.

Aber sie war sicher, dass der knarzige Mann, der jetzt das Pferd auf eine Nebenstrasse lenkte, etwas dagegen gehabt hätte. Kurz liess sie ihre Gedanken zu ihrer Schwester, ihren Eltern, ihrer Tante abdriften. All den Leuten, die ihnen geholfen hatten, denen sie ihr Leben verdankte.

Dann wandte sie sich im Geiste wieder der Gegenwart zu. Das Pferd blieb schnaubend stehen, und während immer dickere Schneeflocken vom Himmel fielen, erblickte Elise zum ersten Mal das kleine Cottage, das dicht an den Boden gedrängt und umrahmt von knorrigen Bäumen dastand, und das von nun an für unbestimmte Zeit ihr Zuhause sein sollte.

PLACES

St. David's

Bahnhof

Ollivanders Haus

PEOPLE

Eliza Goldstein

PEERS

Robert Goldstein Junior

Garrick Ollivander

HISTORY

4. Januar 1940

Donnerstag

Finnland, Winterkrieg: Das erste Kontingent von norwegischen Freiwilligen verlässt Oslo in Richtung Finnland.

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