Lady Gaga - Million Reasons
"A night you will never forget"

Brief von Sergeant Michael T. Willkens an Captain Bruce H. Nightingale
Freitag, 9. Februar 1940
Captain,
Sind noch immer in Avesnes-le-Comte. Die Deutschen haben uns umkreist. Versuchen, uns einen Weg herauszukämpfen, aber dies gestaltet sich schwierig. Geben trotz allem nicht auf. Aber der junge de Vautart hat vielleicht eine Idee, wie wir das Problem lösen können. Haben uns hier gut eingerichtet. Die Lokalbevölkerung versorgt uns mit Lebensmitteln und unsere Männer halten die Moral mit Gesängen und Sprüchen aufrecht. Für das Vaterland!
Sergeant M.T. Willkens
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Was er wohl gerade machte? Wie es ihm wohl ging? Rosalia konnte ihre Gedanken kaum von ihrem Bruder weglenken. Unentwegt musste sie darüber nachgrübeln, ob ihm wohl nichts fehlte. Sein letzter Brief war im Januar gekommen, etwa vor einem Monat. Seitdem Funkstille. Was, wenn ihm etwas passiert war? Sie musste etwas unternehmen! Auf Armando war kein Verlass, aber das hatte sie schon vorher gewusst. Dabei war sie einst so nah mit ihm gewesen. Sie hätte gedacht, dass er sich daran erinnert und sich vielleicht schuldig fühlt. Aber nein, er hatte es offensichtlich vergessen. Die einzige Person, der sie trauen konnte, war sie selbst.
Sie waren vielleicht damals zusammen im Zug gefahren, als sie im ersten Jahr gewesen war. Aber seitdem hatten sie rein gar nichts miteinander zu tun gehabt. Sie ist in der vierten Klasse, er in der sechsten. Sie ist in Slytherin, er in Gryffindor. Eigentlich ist da keine Chance, dass sie sich näherkommen könnten. Und doch, irgendwie passiert es, dass sie sich ständig auf dem Gang über den Weg laufen. Sich in der Eulerei treffen. In der Grossen Halle Blicke austauschen.
Bis sie eines Tages in der Bibliothek über ihn stolpert. Sie ist eigentlich nicht der Bücherwurm, der ständig zwischen verstaubten Bänden abhängt. Aber wenn es sein muss, ist sie mehr als gewillt, hart für eine gute Note zu arbeiten. Und da steht er, versunken in ein Buch über Verteidigung gegen magische Tierwesen.
Er blickt auf und lächelt sie an. Sie lehnt sich lässig an das massive Regal zu ihrer Seite.
«Was liest du da?», spricht sie ihn an, «Doxys? Willst du dein altes Schloss von Ungeziefer befreien?»
Jeder weiss, dass Armando reich ist, es aber eine Muggelburg ist, in der er lebt.
«Nein danke, ich hatte mehr im Sinn diesen Zauber gegen dich anzuwenden.»
Sie schnappt kurz nach Luft und atmet dabei seinen herben Duft nach Zitrus und Moschus ein, eine unglaublich gute Kombination. Das war ziemlich frech von ihm, aber irgendwie auch verdient, sie hat schliesslich angefangen.
«Du willst mich loswerden? Womit habe ich das verdient?», fragt sie gespielt verzweifelt.
«Gute Frage. Vielleicht will ich dich ja gar nicht loswerden», sagt er, macht einen halben Schritt auf sie zu, um ihr eine widerspenstige Locke hinters Ohr zu streichen. Seine Finger sind warm und die Berührung lässt sie wohlig erschauern. Dann klappt er sein Buch zu und geht einfach davon.
Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie einfach blind durch den Gang im Ministerium gelaufen war. Natürlich war sie prompt in jemanden gestolpert, etwas, das ihr seit Ewigkeiten nicht passiert war. Es war Armando Newton. Wenn man vom Teufel spricht!
«Newton! Guten Morgen.» Sie dachte gar nicht daran sich dafür zu entschuldigen, dass sie ihn angerempelt hatte.
«Morgen, Rosalia.»
Sie wollte bereits weiterlaufen, ihn nicht weiter beachten, doch er hielt sie am Arm fest. Und genau wie viele Jahre zuvor verursachte diese kleine Berührung eine Gänsehaut auf ihren Armen. Sie blickte ihn genervt an. Schnell sagte er: «Hör mal, ich habe über das nachgedacht, was du mir erzählt hast. Wegen deinem Bruder. Ich denke, wir könnten zusammen zum Leiter der Abteilung für Internationale Magische Zusammenarbeit gehen und mit ihm reden. Wenn jemand Dacre zurückholen kann, dann er.»
Rosalia blickte Armando tief in die Augen, dann hatte sie sich entschieden: «Gut. Lass uns gehen.»
«Was, jetzt gleich?»
«Ja, natürlich! Worauf willst du warten?»
Darauf hatte er offensichtlich keine gute Antwort, weswegen er ihr einfach folgte. Ihr Mut verlies sie nicht, bis sie vor der Tür des Abteilungsleiters stand. Dann aber bekam sie Muffensausen, doch mit Armando gleich hinter ihr konnte sie unmöglich aufgeben. Also klopfte sie energisch an die Tür. Nachdem ein gedämpftes «Herein» ertönte, schritt sie forsch in den dunkel getäfelten Raum.
Bevor sie aber den Mund öffnen konnte, ergriff Armando das Wort. «Mr. Demeront, Sir. Das ist Miss Rosalia de Vautart. Sie wünscht bei Ihnen vorzusprechen.»
Es war schon fast albern, wie höflich er gegenüber seinem Chef auftrat. Aber nun gut, ein wenig Höflichkeit konnte ihrer Sache sicher nicht schaden. Mr. Demeront nickte und Rosalia trat rasch einen Schritt vor.
«Mr. Demeront, mein Bruder, Dacre de Vautart ist in Frankreich stationiert. Ich würde ihn gerne nach Hause holen. Sir», fügte sie noch schnell an.
In dem Moment, wo sie die Worte laut ausgesprochen hatte, wusste sie bereits, dass ihr Vorhaben scheitern würde.
«Miss de Vautart. Sie sind die Tochter von Gadreel de Vautart, dem Offizier? Ich bin überzeugt Ihr Bruder wusste genau, worauf er sich einliess. Mal davon abgesehen, können wir jeden Mann an der Front brauchen.»
«Aber er hat sich seit einem Monat nicht mehr gemeldet. Ich bin sicher, ihm ist etwas passiert!»
Sie wusste, sie klang kindisch, aber hier ging es immerhin um ihren Bruder!
«Hören Sie, Miss de Vautart, selbst wenn ich Ihren Bruder zurückholen wollte, es geht nicht. Er ist Teil der siebten Garnison. Diese ist in diesem Moment von Deutschen umzingelt. Wir können da niemanden einfach so rausholen!»
Rosalia war verzweifelt. Dacre war umzingelt, er war in Gefahr! Was sollte sie tun? Es gab nur einen Ausweg.
«Dann muss ich nach Frankreich. Mit ein wenig Unterstützung vom Ministerium kann ich es schaffen, die Besetzung der Deutschen von aussen aufzubrechen!»
Armando starrte sie mit offenem Mund an und auch Mr. Demeront schien überrascht, wenn auch nicht abgeneigt.
«Das wäre natürlich eine Möglichkeit. Aber Sie sind eine Frau!», antwortete er zögerlich. Rosalia war sauer, was sollte das denn heissen, als ob sie weniger begabt als ein Mann wäre! Laut sagte sie: «Genau, das werden die Deutschen am wenigsten erwarten!»
Mr. Demeront schien einen Moment zu überlegen, während er Rosalia mit seinen grauen Augen zu durchbohren schien. Dann meinte er: «Überlegen Sie sich das gut, Miss de Vautart. Kommen Sie zurück, wenn Sie einen definitiven Entscheid getroffen haben. Und nun ab mit Ihnen, ich habe noch Arbeit zu tun.»
Und während Rosalia mit Armando das Büro verliess, wusste sie bereits, dass ihre Entscheidung getroffen war.
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Tuppence stiefelte durch das matschige Feld. In den letzten Tagen war es relativ warm für Anfang Februar gewesen und der gefrorene Boden hatte angefangen zu tauen. Manchmal verfluchte sie wirklich, dass sie und das Apparieren einfach nicht zusammenpassten. Gleichzeitig war es eigentlich noch ein angenehmer Spaziergang. Es war ausnahmsweise fast windstill und die Temperaturen lagen dank dem milden Sonnenschein bei knapp über null Grad.
Tuppence war auf dem Weg zu einem kleinen Häuschen am Stadtrand. Der Grund war, dass sie ein Interview mit einer jungen Dame dort führen wollte. Melody Knight hatte ihr von ihr erzählt, das Mädchen sei ein polnischer Flüchtling und lebe bei dem Zauberstabmacher Garrick Ollivander. Tuppence hatte sich nicht angemeldet, sie überraschte die Leute gerne, auch wenn es die Gefahr barg, dass der Gegenüber nichts preisgeben wollte.
Tuppence war unglaublich neugierig auf dieses Mädchen, was sie über ihre Flucht zu erzählen hatte und natürlich auch über ihre Berichte aus der fremden Heimat. Wie es in Polen wohl so war? Ob es sehr anders als Grossbritannien war?
Während sie so lief, wanderten ihre Gedanken zu einem anderen Thema. Es war bereits eine Woche her, dass sie ihre Tante Prudence kennen gelernt hatte. Auch wenn Tuppence einen eher positiven Eindruck von diesem ersten Treffen hatte, fragte sie sich dennoch, was der plötzliche Beweggrund für die Aufmerksamkeit der Verwandtschaft ihrer Mutter war. Sie hatte noch nichts weiter von ihrer Tante gehört, obwohl diese versprochen hatte, sie würde Tuppence so bald wie möglich zum Tee einladen. Aber eigentlich war Penny ganz glücklich, dass sich dieses nächste Treffen erst einmal noch verzögerte. Das gab ihr jedenfalls Zeit zum Nachdenken, was sie definitiv brauchte
Tja, was wollte sie eigentlich? Ihre Gedanken wanderten weiter zu einem anderen Problem: Timotheo. Eigentlich war sie ja mit sich selbst im Klaren darüber gewesen, dass sie ihn als Freund mochte, Ende, aus, fertig! Und doch, sie genoss die Zeit, die sie mit ihm verbrachte. War das Freundschaft? Oder etwas anderes? Tuppence versuchte sich zu erinnern, wie es mit Joe war. Das war ganz anders, aufregend, wild und fühlte sich irgendwie verboten an. Mit Timotheo war es viel ruhiger, vertrauter und sie fühlte sich bei ihm geborgen.
Tuppence schüttelte den Kopf, dass ihre schulterlangen Haare ganz wirr wurden. Na super, jetzt sehe ich auch noch aus wie ein Besenstiel, dachte sie für sich. Egal, ich bin ja nicht hier, um toll auszusehen. Tup stand vor dem Häuschen, halb verborgen hinter alten, jetzt kahlen Bäumen und öffnete das quietschende Gartentor.
Leicht nervös strich sie sich eine widerspenstige Locke hinter das rechte Ohr, dann klopfte sie an die Tür. Im selben Moment öffnete sie sich und ein Junge von etwa zehn Jahren stand vor ihr.
«Guten Tag», sagte er höflich. Tuppence war leicht verwirrt, von einem Jungen hatte sie nichts gewusst. Sie hatte gedacht, der Zauberstabmacher wäre alleinstehend. Aber wenn er ein Mädchen aufgenommen hatte, dann vielleicht auch noch ein weiteres Kind?
«Ich möchte zu Eliza Goldstein», sagte sie darum vorsichtig.
Der Junge nickte, als hätte er die Frage erwartet. Dann trat er beiseite und sagte: «Kommen Sie herein, ich hole sie. Sie trinken Ihren Tee schwarz. Wir haben auch kleine Sandwiches, mit Essiggurken, die mögen Sie doch.»
Tuppence war leicht überwältigt. Dieses Kind wirkte erwachsener als mancher Dreissigjährige! Und all diese Aussagen zu ihren Vorlieben, das waren keine Fragen gewesen. Woher wusste er, dass sie Essiggurken liebte? Der Junge bot ihr einen Platz am Küchentisch an, stellte ihr eine Tasse und einen Teller hin und verschwand dann lächelnd die Treppe nach oben. Einen kurzen Moment später tauchte ein junges Mädchen auf, die hellbraunen Haare zu einem unordentlichen Zopf gebunden und die Ärmel ihres hellblauen Kleides hochgekrempelt.
«Guten Tag. Sie wünschen?», fragte sie, nicht abweisend, aber doch reserviert. Tuppence erhob sich rasch und streckte ihr die Hand entgegen, die das Mädchen langsam schüttelte.
«Guten Tag, Miss Goldstein. Mein Name ist Tuppence St. Claire, ich bin Reporterin für Buzzing Whisper Radio. Vielleicht haben Sie schon einmal von uns gehört? Jedenfalls würde ich sehr gerne ein Interview mit Ihnen führen.»
«Ein Interview, warum? Ich habe bestimmt nichts Spannendes zu erzählen», antwortete das Mädchen lachend, aber Tuppence hatte das Gefühl, dass sie etwas zu überspielen versuchte.
«Ich habe gehört, dass Sie aus Polen geflohen sind. Können Sie mir mehr über Ihre Flucht erzählen, über Ihr Leben davor und wie es Ihnen jetzt ergangen ist?»
«Das sind sehr private Themen! Es ist mir unangenehm darüber zu reden. Viele Erinnerungen, verstehen Sie? Es wäre mir sehr recht, wenn Sie nun gehen.»
Tuppence war etwas vor den Kopf gestossen. Sie war es gewohnt, dass man Reportern nicht nur mit Wohlwollen entgegenkam. Aber diese junge Frau schmiss sie gerade raus. Warum? Hatte sie etwas zu verbergen? Sie schien wie eine Person, die ein Geheimnis hütete und lieber eine Chimära küssen würde als es preiszugeben.
Doch Penny wusste, wann man besser nachgab. Sie erhob sich, nickte Eliza Goldstein noch einmal zu und verabschiedete sich. «Falls Sie es sich anders überlegen, ich wohne im David’s Inn im Dorf. Ich wäre wirklich interessiert daran, Ihrer Geschichte Gehör zu verschaffen. Schönen Tag noch.»
Und während sie sich auf den Weg zurück nach St. David’s machte, fragte sie sich, halb neugierig, halb misstrauisch, was es war, dass dieses Mädchen verbarg. Und wie sie es herausfinden konnte.
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Ein junges Mädchen, das er noch nie gesehen hatte, öffnete die Tür, nachdem er dem Greifenklopfer sein Ankommen verkündet hatte. Das Mädchen knickste kurz, dann führte sie ihn in den Salon, wo seine Tante bereits wartete. Sie stand auf, um ihn auf beide Wangen zu küssen, als wäre er jahrelang weggewesen und nicht nur einen Monat.
«Tante Arielle, wie geht es dir?», fragte er höflich, wie immer.
«Ach, du weisst schon, die üblichen Gebrechen einer jammernden alten Frau. Aber erzähl mir von deinem spannenden Leben! Wie geht es dir? Wie läuft es mit dem Hausmädchen?»
«Sie ist wunderbar, Tante! Sie erledigt den Haushalt mehr als zufriedenstellend und macht grossartige Fortschritte.»
Tante Arielle horchte auf: «Fortschritte? In was?»
Septimus biss sich auf die Lippe. Jetzt hatte er es doch verraten. Er konnte einfach kein Geheimnis für sich behalten! Er antwortete, selbstbewusster als er sich fühlte: «Im Zauberunterricht. Ich bringe Nellie bei, besser zu zaubern. Sie lernt jetzt auch lesen und schreiben.»
«Ach? Wie … schön!», murmelte Arielle Weasley. Amüsiert sah sie dennoch nicht aus, aber immerhin versuchte sie nicht Septimus das Unterfangen auszureden. Es entstand eine Pause, in der keiner der beiden ein Wort sagte und nur das laute Ticken der grossen Standuhr zu hören war. Dann fügte Tante Arielle an: «Du warst schon immer sehr … fürsorglich und grossherzig. Pass einfach auf, Septimus.»
«Auf was soll ich aufpassen, Tante Arielle, ich bringe Nellie nicht das Duellieren bei», lachte Septimus. Seine Tante sah ihn eindringlich an und sagte nur: «Auf dein Herz, Septimus, mein Lieber.»
Anschliessend wechselte sie fast schon brüsk das Thema und fragte ihn ehrlich interessiert über seine Arbeit aus.
Als sich die beiden in Richtung Speisesaal aufmachten um das Dinner einzunehmen, kam das Mädchen wieder in den Raum, knickste kurz und sagte dann leise, aber doch gut vernehmbar: «Master Lancelot wünscht, sich vorstellen zu dürfen.»
Septimus widerstand dem Drang die Augen zu verdrehen. Er hatte eigentlich gerade gar keine Lust auf seinen älteren Bruder, seinen letzten nahen Verwandten neben Tante Arielle. Er hatte kein Interesse von seinen verqueren Meinungen und langweiligen Geschichten aus dem St. Mungo-Hospital zu hören. Sein Bruder war chirurgischer Heiler und leitete bereits eine Abteilung. Seine Anwesenheit erinnerte Septimus nur daran, dass er noch eine Arbeit brauchte, wenn er gegen Diane Sandringham eine Chance haben wollte.
«Er hat sich nicht angemeldet! Aber nun gut, er soll eintreten. Sagen Sie Gretchen, dass sie noch ein Gedeck auflegen soll.»
Gemeinsam traten die beiden in die Eingangshalle, die den Salon mit dem Speisezimmer verband. Da stand er bereits, mit dem Rücken zu Ihnen, offenbar tief versunken in der Betrachtung eines der Gemälde und drehte sich in dem Moment um, als Tante Arielle ihn ansprach.
«Tantchen! Welche Freude, dich zu sehen! Und mein geliebter Bruder! Lange ist’s her!»
Er umarmte seine Tante und schüttelte Septimus jovial die Hand. Lancelot hatte schon immer etwas nervenaufreibend Staatsmännisches an sich gehabt. Während dem Abendessen wurde es nicht viel besser. Lancelot erzählte in einer Fort von all den wunderbaren Eingriffen, die er natürlich stets herausragend vorgenommen hatte.
Das Problem zwischen ihm und seinem älteren Bruder bestand schon länger. Lancelot war schon immer eifersüchtig auf seinen jüngsten Bruder gewesen, der nicht nur der kleine Liebling der reichen Erbtante, sondern auch der Eltern gewesen war. Und diese Eifersucht hatte Lancelot immer an ihm ausgelassen, hatte ihn mit Kaltherzigkeit bestraft. Als die Familie durch das mysteriöse Feuer ausgerottet worden war, liess Septimus ihn im Gegenzug spüren, wie er doch wünschte, die Mutter hätte an seiner statt überlebt.
Als die beiden älter wurden, versuchte der Ältere seinen jüngeren Bruder stets durch gute Leistung zu übertrumpfen, auch wenn Septimus ohne grosse Probleme mithalten konnte. Dass Septimus ausgerechnet ebenfalls Heiler hatte werden müssen, stiess Lancelot noch heute bitter auf. Endlich hatte er das Gefühl gehabt, ein Feld gefunden zu haben, wo er alleine glänzen konnte. Doch für Septimus war es bislang nicht ganz so überragend gelaufen.
Septimus wusste selbst, dass er bislang nur durchschnittliche Arbeit im Hospital geleistet hatte und fragte sich, woran das lag. Er hatte den Verdacht, dass es der Tatsache geschuldet war, dass er seine Nische noch nicht gefunden hatte. Er war handwerklich einfach nicht besonders begabt, da war sein Bruder sicher besser als er und dementsprechend auch gut in der magischen Chirurgie aufgehoben.
Doch auch die Innere Heilung, also die Heilung von Krankheiten wie Drachenpocken und Griselkrätze sprach ihn einfach nicht an. Er wusste nicht mehr weiter. Natürlich hatte er gehofft, bei der Suche nach einem Fall für die Stationsleitung fündig zu werden, sein Fleckchen zu finden. Und doch war dies bis jetzt noch nicht von Erfolg gekrönt gewesen.
«Und du, Septimus?», fragte in diesem Moment Lancelot. Früh war er dran mit dieser Frage, sie waren gerade erst beim Nachtisch angelangt. «Wie läuft es bei dir im Hospital, mein Bester?»
«Gut», antwortete der jüngere Weasley-Bruder. Als er die aufmerksamen Blicke seiner Tischgesellschaft auf sich spürte, wusste er, dass er sich nicht ganz so einfach aus der Affäre ziehen konnte. «Ich habe mich auf die Stelle als Stationsleiter beworben. Dafür bin ich im Moment noch auf der Suche nach einem passenden Fall.»
«Ich würde dir ja unter die Arme greifen, so unter Brüdern, hahaha. Aber das wäre ja Schummeln, nicht wahr? Aber wenn du es alleine nicht schaffst, melde dich ruhig, dann kann ich dir gerne einen meiner Fälle aus der Chirurgie geben! Da fällt mir ein, habe ich euch schon von meinem letzten Eingriff erzählt? Also das war eine Sache!»
Und während Lancelot unbeirrt weiter palaverte, fiel Septimus wieder in seinen Tagschlaf zurück und nahm sich gleichzeitig fest vor, so schnell wie möglich einen richtig guten Fall zu finden und seinen Bruder ein für alle Mal zu übertrumpfen, koste es was es wolle.
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Timotheo war extra ein paar Minuten zu früh gekommen, um sie nicht unnötig warten zu lassen. Er hätte sich aber gar keine Sorgen machen müssen, denn Tuppence St. Claire kam ein paar Minuten zu spät. Normalerweise hasste Timotheo so ein Verhalten, aber interessanterweise machte es ihm heute überhaupt nichts aus.
So hatte er noch einen Moment Zeit, den heutigen Arbeitstag Revue passieren zu lassen. Der Fall Walter Kleine, in den er sich so hereingehängt hatte, war abgeschlossen. Der Kerl hatte natürlich kein Wort verraten und war schliesslich verurteilt worden. Timotheo wusste nicht einmal genau, wie lange er jetzt in Askaban einsitzen musste, er war beim Prozess nicht dabei gewesen. Lange, so viel war sicher. Mit Spionen hatte das Ministerium in diesen Tagen kein Erbarmen.
Als Tuppence schliesslich leicht ausser Atem die Teestube betrat, erhob sich Timotheo wie ein Gentleman und schob ihr den Stuhl zurecht. Er wusste nicht hundertprozentig, wie man sich einer Dame gegenüber verhielt, also packte er lieber mal alles an Manieren aus, was er von seinem Elternhaus gelernt hatte.
«Wie geht es Ihnen, Tuppence?»
«Gut, aber ich habe eine Frage», kam sie gleich zum Punkt. Das mochte er so an ihr. Kein umständliches Drumherum, sondern diese Direktheit. Sie schluckte noch einmal, dann rückte sie mit der Sprache heraus.
«Sind Sie in mich verliebt?»
Uff, das hatte er nicht erwartet. Sein erster Gedanke war, die Frage zu verneinen, natürlich war er nicht in sie verliebt! Aber würde sie das kränken? Wollte sie vielleicht sogar, dass er in sie verliebt war? War sie etwa in ihn verliebt? Er wollte sie nicht traurig machen und je länger er darüber nachdachte, sich an ihre Begegnungen erinnerte, desto klarer wurde ihm, dass er sie gerne hatte. Aber war das Verliebtheit?
Viel zu spät fiel ihm auf, dass er noch keine Antwort gegeben hatte und sie stattdessen immer noch anstarrte, dazu auch noch mit offenem Mund! Gleichzeitig war ihm aber auch immer noch nicht klar, was er ihr antworten sollte.
«Also… verliebt hätte ich jetzt nicht gesagt…», stammelte er, fügte dann aber noch schnell an: «Aber ich mag Sie schon… irgendwie. Also, Sie sind nett und alles!» Verdammt, er hörte sich an wie ein stotternder Erstklässler! Doch dann entdeckte er das erleichterte und freundliche Strahlen auf Miss St. Claires Gesicht. Sie war gar nicht verletzt!
«Das ist sehr gut!», grinste sie ihn an. «Denn wissen Sie, ich mag Sie eben auch! Aber als Freund halt, Sie verstehen schon?»
Er verstand. So sahen ihn die meisten Frauen. Als Freund. Warum auch hätte eine mehr gewollt? Er war bestenfalls durchschnittlich, kein toller Hecht wie Septimus Weasley oder Armando Newton! Und während er Tuppence freundlich anlachte und so tat, als ob er auch erleichtert wäre, dass sie das unangenehme Thema abgeschlossen hatten, konnte er doch sein Bedauern kaum verhehlen. Gleichzeitig, und da musste er ganz ehrlich mit sich selbst sein, sehnte er sich mehr nach einer Beziehung mit irgendjemandem denn nach einer Beziehung mit Tuppence. Und das hatte die junge Frau dann wirklich nicht verdient, mit einem Stinkstiefel wie ihm Zeit zu verbringen, wenn seine Gefühle für sie nicht einmal echt waren.
Tuppence schien sein Gegrübel nicht zu bemerken. Sie erzählte ihm von ihrer Verwirrtheit bezüglich Tante Prudence, dass sie nicht wisse, was sie davon halten sollte und ob er fände, dass sie Tante Prudence zu einer Tasse Tee einladen sollte? Er nickte nur und hätte fast seinen Einsatz verpasst, etwas zu sagen. Schliesslich riss er sich zusammen und gab sich mehr Mühe der Freund zu sein, den sie offensichtlich in ihm sah. Schliesslich kam ihm noch eine gute Idee.
«Der Ball zu Ehren der Verlobung von Armando Newton und Louise Ratcliff findet am 14. Februar statt. Sie könnten mich dorthin begleiten? Als Freundin, meine ich. Ich bin überzeugt, dass Prudence auch dort sein wird.»
«Ein Ball?», antwortete Tuppence. «Das ist eine ausgezeichnete Idee! Ein neutraler Ort, um sich wiederzusehen. Aber ich habe ja gar nichts anzuziehen!»
«Das sollte kein Problem sein! Ich werde mein Schwesterlein fragen, ob sie Ihnen etwas ausleihen kann. Melody hat ein paar angemessene Kleider für Preisverleihungen und Bälle.»
Tuppence schien noch einen Moment zu zögern, dann stimmte sie mit einem Lächeln zu.
«Vielleicht könnte ich sogar einen Bericht für das Radio über die Verlobung schreiben?»
Timotheo schluckte. Das war eigentlich nicht seine Idee gewesen. Er konnte nur ahnen, dass die Familie Newton das eher nicht gutheissen würde. Gerade wollte er Tuppence darauf hinweisen, als die Reporterin schon weiterredete: «Ich glaube, das werde ich machen! Ich muss los, wenn ich jetzt gleich eine Eule an Buzzing Whisper Radio schreibe, habe ich bis morgen eine Antwort! Vielen Dank für alles, Timotheo! Sie sind ein wahrer Freund!»
Und mit diesen Worten sprang sie auf, warf ein paar Münzen auf den Tisch und ging. Timotheo blieb noch einen Moment sitzen und liess das Gespräch in Revue passieren. Und während er noch ins Leere starrte, wurde ihm klar, dass es sehr wohl missverstanden werden konnte, wenn er Tuppence mit zu so einem offiziellen Anlass nahm. Nun, jetzt war es zu spät. Timotheo zahlte seinen Tee, dann stand er langsam auf. Als er die Tür öffnete, kam ihm gerade ein junges Mädchen entgegen. Timotheo hielt ihr die Tür auf und machte sich auf den Weg zu seiner Ruine, in langsamen und gemächlichen Schritten, damit er noch ein wenig länger nachdenken konnte, was Tuppence St. Claire eigentlich genau für ihn war.
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Der Raum, der wohl tagsüber eine Teestube war, sich abends jedoch in eine Tanzbar verwandelte, war bereits gut gefüllt, als Nellie hereinkam. Ein junger Mann hielt ihr höflich die Tür auf, beachtete sie aber nicht weiter. Nellie war unsicher. Sie war noch nie an so einem Ort gewesen. Doch heute würde sie ihr Glück wagen.
Es war am Nachmittag geschehen. Nellie hatte gerade im Garten Wäsche aufgehängt und ihre Finger waren von der Kälte und dem Wäschewaschen gerötet gewesen. Gerade, als sie den Korb aufheben und wieder in das Häuschen zurückkehren wollte, um noch ein wenig Zaubern zu üben, bevor sie das Abendessen für Master Septimus vorbereiten würde, hatte sie sie gehört.
Es waren Soldaten gewesen, fünf junge Männer. Sie waren lachend und schwatzend in ihren dunkelgrünen Uniformen an Nellie vorbeigelaufen. Während die meisten sie nicht beachtet hatten, war einer stehen geblieben, hatte Nellie kurz von oben bis unten gemustert und schliesslich angesprochen.
«Na, junges Fräulein! Was für ein schöner Tag!»
Nellie hatte unsicher gelächelt und ihn dann höflich zurückgegrüsst. Dann wollte sie sich abwenden und schnell im Haus verschwinden, aber der Mann hatte sich über den Zaun gelehnt und sie am Arm festgehalten. Sie war für einen Moment erschrocken, dann fragte der Soldat sie: «Sehe ich Sie heute Abend in der Tanzbar, schönes Fräulein?»
Und bevor sie gewusst hatte, was sie da tat, hatte sie genickt und war schnell ins Haus geflohen.
Den ganzen Nachmittag war sie nervös gewesen. Sogar Master Weasley war aufgefallen, dass sie unkonzentriert bei ihrer Zauberlektion war. Sie hatte ihm schliesslich erzählt, dass sie am Abend tanzen gehen würde und ihn schnell noch gefragt, ob sie den Abend frei haben könnte. Er hatte nur genickt, aber nicht besonders glücklich darüber ausgesehen, dass sie ausgehen würde. Nun, er war selbst schuld, sagte sich Nellie mit einem Anflug von Trotz. Sie arbeitete nun seit über einem Monat für ihn, er hätte sie schon längst fragen können, wenn er sie hätte einladen wollen. Nun, da sich ein anderer für sie interessierte, wollte er den Beleidigten spielen?
Nellie hatte ihr schönstes Kleid ausgesucht, das weisse mit den blauen Streifen. Nicht, dass sie gross Auswahl gehabt hätte, ihr Kleiderschrank bestand nur aus drei Kleidern, etwas Unterwäsche und einem handgestrickten Schal von ihrer Mutter. Zu guter Letzt hatte Nellie ihren Strohhut aufgesetzt, den sie sonst nur für besondere Anlässe hervorholte, wie den Gang in die Kirche.
Nun stand sie in diesem Raum, blickte auf die Tanzfläche, wo sich die bereits die ersten Tänzer tummelten und fühlte sich verloren wie schon lange nicht mehr. Schliesslich hörte sie hinter sich eine Stimme, die ihr bekannt vorkam. Es war der Soldat von heute Morgen! Wie schmuck er in seiner Uniform aussah! Nellie lächelte ihn schüchtern an.
Er verbeugte sich galant, dann begrüsste er sie: «Guten Abend, meine Hübsche. Ich glaube, ich habe Sie heute Morgen gar nicht nach ihrem Namen gefragt. Ich heisse Tiw Epson.»
Bei seinen Worten errötete Nellie und stellte sich kurz vor. Dann liess sie sich von Tiw zur Mitte des Raums führen, wo er sich erneut verbeugte und sie mit einem verschmitzten Lächeln zum Tanzen aufforderte.
Nellie fühlte sich wie in einem Traum. Tiw war einfach wunderbar, ein guter Tänzer und ausserdem so unglaublich höflich. Was sie allerdings irritierte, war, dass er immer wieder seinen Kumpanen Blicke zuwarf und dabei manchmal vor sich hinlachte. Was war so witzig? Nellie beschloss, sich nicht weiter darum zu kümmern.
Sie tanzte und tanzte und als sie schliesslich völlig ausser Atem war und mit Schrecken feststellte, dass es bereits zehn Uhr abends war, wollte sie sich auf den Heimweg machen. Doch Tiw, der im Laufe des Abends zunehmend betrunken geworden war, hielt sie am Arm fest.
«Nellie, du kannst jetzt nicht gehen! Es kommt noch der Wettbewerb.»
«Was für ein Wettbewerb?», fragte Nellie verwirrt. «Du hast gar keinen erwähnt.»
«Na, der Schönheitswettbewerb natürlich! Wir küren jeden Freitagabend die Schönste in dem jeweiligen Dorf, wo wir stationiert sind!»
Nellie fühlte sich für einen Moment geschmeichelt und errötete, zum x-ten Mal an diesem Abend. Doch als Tiw sie nach vorne zog und die anderen vier Frauen sich neben sie in eine Reihe stellten, verging ihr das Lächeln. Die Mädchen, die neben ihr standen, waren alle nicht gerade für ihre Schönheit im Dorf bekannt. Mimi, eine Magd, die in Berkley Park arbeitete, war zwar nicht direkt hässlich, aber von einer grossen Narbe in ihrem Gesicht entstellt. Addison, die Tochter des Bäckers, war so dick, dass sie fast breiter als hoch war und hatte ein hochrotes Gesicht. Die Tochter des Hufschmieds, Maureen, hatte dutzende rote und zum Teil entzündete Pusteln im Gesicht. Und die letzte Frau, die Nellie nicht kannte, war hager und eigentlich nicht hässlich, als sie aber dümmlich lächelte, kam ihr grosses, pferdeartiges Gebiss zum Vorschein.
Nellie wusste, worum es sich handelte. Sie hatte zwar noch nie davon gehört, aber es war offensichtlich, dass hier nicht ernsthaft die Hübscheste des Abends gekürt wurde. Offenbar machten sich diese Männer auf Kosten der Frauen einen ziemlich fiesen Scherz.
Nellie drehte sich um und wollte gerade gehen, weg von hier, einfach nur noch in Tränen ausbrechen, bevor sie wie ein geprügelter Hund zurück ins Hause Weasley kehren würde. Doch Tiw hielt sie immer noch fest und als er spürte, wie sie versuchte sich zurückzuziehen wurde sein Griff um ihr Handgelenk fester.
«Lass mich los, Tiw! Ich muss gehen.»
«Du bleibst hier, bis ich dir sage, dass wir fertig sind!», sagte er und in seinen Augen flammte etwas auf, etwas bedrohliches, das Nellie zunehmend Angst machte. Dann rief einer seiner Kollegen: «Also, ich finde, wir sollten unseren fünf Prinzessinnen hier neue Namen verpassen: Wie wäre es mit Hackfressen-Dolly?»
Die anderen lachten und das Mädchen mit den schiefen Zähnen, das anscheinend Dolly hiess, lachte am lautesten. Sie war offenbar geistig zurückgeblieben und für einen Moment hatte Nellie mehr Mitleid mit ihr als mit sich selbst. Mimi, die versuchte, sich an einem der Soldaten vorbei zu drängen, wurde grob zurückgestossen, sodass sie gegen einen Stuhl taumelte. Der Mann, der sie geschubst hatte grölte: «Du hast dir gerade den Namen Gewitterziege-Mimi verdient!»
Nellie spürte, wie sie immer kleiner wurde. Lieber Gott, dachte sie, bitte bitte beschütze mich. Mach, dass alles gut wird.
«Ich finde ja, der Preis sollte an die alte Jungfer Nellie gehen…», rief ein Dritter und Tiw fiel brüllend in ihr Gelächter ein. Wie bitte? dachte sich Nellie. Aber ich bin doch gar nicht alt, und dann fiel ihr auf, dass sie auf ihre Jungfräulichkeit angespielt hatten. Die Männer fingen an zu klatschen und schliesslich schrie Tiw: «Dann ist es entschieden? Unsere alte Jungfer hier kriegt den Ehrenpreis der Schönsten!»
Und während die anderen sich aus dem Staub machten, spürte Nellie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie wollte gerade den anderen Mädchen folgen, als Tiw sie packte, so grob, dass er ihr wehtat. Nellie jaulte auf. In diesem Moment kam ihr der Barmann zu Hilfe: «Wir schliessen jetzt, macht, dass ihr verschwindet!»
Und während die Männer noch murrten, schaffte Nellie es endlich, sich zu befreien und rannte mit einem unterdrückten Schluchzen weg. Doch Tiw schien nicht so einfach aufgeben zu wollen. Er folgte ihr und als Nellie angsterfüllt zurückblickte und in die Dunkelheit Richtung Stadttor lief, prallte sie gegen einen festen, warmen Körper.
«Hei, nicht so schnell», sagte eine warme, ihr wohlbekannte Stimme. Es war Septimus! Er war gekommen, um sie zu retten! Tiw, der offenbar gesehen hatte, dass da noch jemand anderes war, hielt inne. Offenbar überlegte er sich, ob er Streit anfangen sollte, entschied sich dann aber dagegen.
«Was ist passiert, Nellie?», fragte Septimus besorgt, als Nellie ihm weinend um den Hals fiel. Aber das Mädchen konnte ihm nicht antworten, zu gross war die Scham über ihre Dummheit und Leichtsinnigkeit. Septimus sagte nur: «Ist schon okay, ich bringe dich erstmal nach Hause.»
Septimus nahm sie sanft in den Arm, dann blickte er sich kontrollierend um und als er sah, dass die Strasse leer war, apparierte er mit Nellie nach Hause. Kaum waren sie durch die Tür, als er sie schon in einen bequemen Sessel schob und mit einer Wolldecke zudeckte. Trotzdem hatte Nellie noch immer das Gefühl zu frieren.
«Und jetzt erzählst du mir alles, was passiert ist», forderte Septimus Nellie noch einmal auf. Das Mädchen erzählte, und ohne auch nur eine Peinlichkeit auszulassen, berichtete sie ihm alles, was vorgefallen war. Septimus Blick verdunkelte sich und mit grimmigem Gesichtsausdruck stand er auf und schritt auf und ab.
«Ich hätte dich nie alleine dahin gehen lassen dürfen! Ich hatte schon von Anfang an ein schlechtes Gefühl!»
Er hatte sich also Sorgen um sie gemacht? Hatte er dann am Ende gar Gefühle für sie? Nellie blickte aus ihrem Sessel heraus Septimus unsicher an. Dieser beugte sich nun herunter zu ihr und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Und gerade, als sich Nellie anfing zu wünschen, er möge sie doch bitte küssen, sagte er: «Du bist viel mehr als eine Hausangestellte für mich, Nellie. Du bist wie eine Schwester!»
Nellie fühlte, wie ihr Herz, als wäre es aus Glas, in tausend Stücke zerbarst. Sie wusste natürlich, dass das vermutlich nicht wirklich passierte, aber der stechende Schmerz, der sich von ihrer Brust aus in den Rest ihres Körpers ausbreitete, fühlte sich mindestens so schlimm an. Er liebte sie wie eine Schwester. Oh nein, Gott, dachte sie, womit habe ich das verdient.
Dann riss sie sich zusammen. Natürlich, dachte sie. Wie hatte es anders sein können. Ich bin immerhin nur eine Magd und eine hässliche noch dazu. Und mit einem gezwungenen Lächeln verabschiedete sie sich von Septimus, stieg so schnell wie möglich ohne zu rennen die Treppe herauf und verschwand in ihrem Zimmer. Und erst, als sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, erlaubte sie sich, den Tränen, die sie die letzten Minuten zurückgehalten hatte, freien Lauf zu lassen.
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Draussen war es dunkel und es regnete. Ellie war weg, aber er wusste, dass, auch wenn sie garantiert nass werden würde, alles gut war und sie sich nicht einmal einen Schnupfen holen würde. Er wusste auch, dass er diesen Nate-Mann nicht besonders mochte. Natürlich hätte er das Ellie sagen können, natürlich hätte er ihr erzählen können, was er gesehen hatte. Was er ihr noch antun würde. Aber was für einen Sinn hatte das? Sie musste ihr Leben selbst leben, er wusste, dass, auch wenn sie ihm glauben würde, es trotzdem passieren musste. Weil es alles zu einem grossen Plan gehörte. Er durfte nur zusehen. Nicht verändern. Es war gefährlich, wenn man den Plan änderte.
Vermutlich mochte er Nathaniel auch nicht so gerne, weil er Ellie jetzt viel weniger sah. Seit sie angefangen hatte, den Zauberstab zu bauen, war sie viel beschäftigter als sonst und spielte auch weniger mit ihm. Er war eifersüchtig. Er wusste, was das war und doch fiel es ihm schwer, dieses Gefühl zu greifen, zu benennen. Aber die Wut, dass er Ellie jetzt mit einem anderen Mann teilen musste, die brannte tief in ihm.
Er versuchte sich mit Freude abzulenken, wie er es immer tat, wenn dunkle Gefühle in ihm aufkamen. Freude darüber, dass Ellie so viel glücklicher war in den letzten Tagen. Dass sie gepfiffen hatte und einen Kuchen gebacken hatte. Er wusste, dass es an ihm lag, weil er ihr eine Eule geschickt hatte. Der Neid brannte.
Bo war langweilig. Er hatte nur einen Zinnsoldaten und der war genauso einsam wie er. Er hatte keine Freunde und war auch nicht sicher, ob er jemals welche haben würde. Das zeigte ihm die Zukunft nicht an. Er versuchte, sich erwachsen zu verhalten. Natürlich hätte er lesen können, aber sie hatten nur ein einziges Buch dabei, eine Sammlung von englischen Gedichten. Darauf hatte er keine Lust, das war etwas für Mädchen. Er wollte von Abenteuern hören!
In diesem Moment knarzte die Treppe und der Alte kam herunter. Garrick. Bo wusste, dass er eigentlich nicht alt war, nicht viel älter als Ellie jedenfalls, aber mit seiner murrigen Art wirkte er mindestens so alt wie Papa. Garrick Ollivander stand einen Moment lang da und beobachtete Bo, wie er den Soldaten marschieren liess. Auf und ab, vom Kamin über den Teppich, einmal um das Brandloch herum und wieder zurück zum Kamin. Bo hatte keine Angst vor Ollivander. Er war nicht so gemein wie er tat, das hatte er gesehen.
«Was machst du da?», fragte der Alte, überflüssigerweise. «Ich lasse meinen Soldaten marschieren», antwortete Bo.
«Das sehe ich», murmelte der Alte, dann fügte er an: «Hast du nur einen einzigen?»
«Ja, wir durften nicht viel Gepäck mitnehmen.»
Mit leichter Trauer dachte er an sein Zimmer mit Spielsachen in Funkenau zurück, eine kleine Armee Zinnsoldaten war auch darunter gewesen.
«Der ist aber langweilig, kann der noch irgendwas?», fragte der Alte.
Bo war leicht vor den Kopf gestossen, dies war sein wertvollster Besitz! Alles, was ihn an zuhause, an seinen Vater erinnerte! Und der Alte wagte es, seinen Soldaten zu degradieren?
Garrick stand auf, warf ein paar Scheite Holz ins Feuer, doch einen behielt er in der Hand, drehte und wendete ihn und blickte dann kurz zu Bo. Bo blickte zurück. Er war nicht sicher, ob er richtig sah, was gleich passieren würde. Manchmal war die Zukunft nicht so eindeutig. Manchmal überfiel sie ihn, wie ein Anfall, dann war er in einer anderen Welt. Das war am gefährlichsten, weil er sich dann verletzen oder, noch schlimmer, anderen seine Bestimmung verraten konnte. Doch manchmal war es auch einfach nur ein Gefühl, das Wissen, was passieren würde.
Garrick nahm seinen Zauberstab hervor und mit ruckigen Bewegungen, als würde er mit einem groben Messer das Holz zurecht schnitzen, liess er Späne durch die Luft wirbeln. Bo sah ihm immer noch still dabei zu. Als der Alte schliesslich mit seiner Arbeit zufrieden war, stellte er die Figur auf den Boden, gab ihr einen kleinen Stupser mit dem Zauberstab, viel sanfter, als Bo erwartet hätte und das Pferd fing an auf den Soldaten zuzutraben. Es war das erste Mal seit Tagen, dass der Junge lächelte.
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Nate liess Tannenzapfen durch die Luft wirbeln, dann beschwor er eine kleine Flamme auf und liess sie über den See hüpfen, bis sie im Wasser unterging und erlosch. Dieser Zauberstab war der beste, den er je besessen hatte! Nicht vergleichbar mit dem alten, den er in der Schule gehabt hatte. Er trauerte ihm keine Minute hinterher. Jeder Zauber, den er ausführte, war so viel präziser, so viel mehr, was er sich im Kopf vorstellte. Als würde der Holzstab seine Gedanken lesen, als wären sie alte Freunde, die den Satz des anderen vervollständigen.
Gleichzeitig war Nate nervös. Er hatte Eliza vor ein paar Tagen seine Eule geschickt, um sich heute Abend mit ihr am See zu treffen. Sie hatte ihm zwar zurückgeschrieben, dass sie kommen würde. Aber was, wenn sie die Lichtung nicht fand? Was, wenn sie es sich anders überlegt hatte?
Aber seine Ängste wurden widerlegt, als wenige Minuten später ein Rascheln aus dem Gebüsch erklang und Eliza auf die Wiese stolperte.
«Unglaublich, erst habe ich mich gefragt, was du hier draussen willst, aber jetzt wo ich es bei Mondschein sehe muss ich schon sagen, es ist wunderschön hier!»
Nate stand der Mund offen. Sie trug keine besonderen Kleider, nur ein dunkelblaues Leinenkleid und ihren Wollmantel, den sie diese Tage immer trug. Dazu einen schlichten Hut und wollene Handschuhe. Ihre Haut leuchtete im sanften Mondlicht wie Elfenbein und ihre braunen Rehaugen glänzten wie Onyxe, als sie das Licht der Sterne reflektierten. Sie war wunderschön.
«Ich freue mich, dass du gekommen bist!», stammelte Nate, auf einmal unsicher, was er eigentlich von ihr wollte. Was konnte irgendein Mann einer Frau wie ihr bieten? Und gerade er, der Verlierer des Dorfes! Er merkte, dass er sich in Selbstmitleid verlor und riss sich zusammen.
«Hier», er reichte ihr das kleine Büchlein, «dein Pass. Ich werde keinem verraten, was darinsteht. Dein Geheimnis ist sicher bei mir.»
Eliza blickte einen Moment auf ihren deutschen Pass, dann sah sie ihm direkt in die Augen und sagte schlicht: «Danke!»
Einen Augenblick standen sie beide einfach da, genossen die Stille, die sternenklare Nacht und die Gesellschaft des anderen. Dann bemerkte er, dass sie anfing zu zittern.
«Du frierst», stellte er fest und zog schnell seinen eigenen Mantel aus, um ihn ihr über die Schultern zu hängen.
«Es geht schon», murmelte sie, kuschelte sich dann aber doch tief in seine Wolljacke. Einen Moment überlegte er, ob er sie in den Arm nehmen sollte, traute sich dann aber nicht und nahm stattdessen nur ihre Hände in seine und hauchte ihnen Wärme ein.
«Du bist so anders, als die Leute über dich erzählen», ergriff sie schliesslich das Wort.
Sein Blick verdüsterte sich. Er wusste, was man über ihn im Dorf sagte. Taugenichts. Tunichtgut. Dieb. Der Sohn vom alten Säufer! Einer, der weggesperrt gehörte. Den man davonjagen sollte. Es war vor allem dem Einfluss seines Freundes Septimus und seiner Schwester Candice zu verdanken, dass er hier im Wald hausen durfte.
«Ich denke nicht, dass es stimmt, was man über dich sagt. Ich glaube, du bist anders», sagte sie sanft. Dann löste sie eine ihrer Hände aus der seinen und strich ihm sanft über das Gesicht. Er wollte sie zurückweisen. Ihr sagen, dass er nicht gut genug für sie war. Dass er ihr das Herz brechen würde. Aber er konnte nicht. Stattdessen sagte er: «Du hast mich mit Rosalia gesehen.»
Er hatte sie wegrennen gehört und sich gedacht, dass es sie gewesen war. Wer sonst wäre so verrückt, nachts durch den Wald zu streifen? Er wollte ihr alles erklären, sagen, dass das mit Rose nichts bedeutete. Aber sie unterbrach ihn: «Ist schon okay. Du bist mir keine Erklärung schuldig.»
Und in diesem Moment nahm er ihr Gesicht in seine Hand und küsste sie, küsste sie, wie er noch nie jemanden geküsste hatte. Es war, als würde die Zeit stillstehen. Sie schmeckte gut, nicht nach etwas bestimmtem, sondern einfach nach Eliza. Sie küsste ihn sanft, aber drängend, als würde sie ihn auffordern, ja nicht aufzuhören. Zögerlich griff er mit der freien Hand in ihr Haar, ihr Hut fiel zu Boden, aber keiner von ihnen scherte sich darum. Er spielte mit ihren zerzausten Locken, zog sie näher zu sich heran, als hätte er Angst, dass sie ihm entgleiten würde, wenn er sie nicht festhielt. Es verging eine Weile, Minuten, Stunden? Er hatte keine Ahnung. Als sie sich schliesslich ausser Atem voneinander lösten und sie ihren Hut aufhob, hatte er das Gefühl, als hätte sein altes Leben geendet und ein neues Zeitalter begonnen. Etwas war passiert, etwas hatte gestartet. Er hatte das Gefühl, als wäre er ohne Ziel losappariert und alles würde sich drehen, während er immer noch nicht wusste, wo er landen würde. Und er schwor sich, alles zu tun, um diese Frau glücklich zu machen.
Während die beiden immer noch Hand in Hand am Seeufer standen, verliessen einige Kilometer entfernt in Berkley Park mehrere Eulen den Westturm. Die Briefe an die Muggelgäste waren bereits vor einigen Tagen herausgegangen, aber die Eulenpost ging natürlich sehr viel schneller, weswegen sich Cassiopeia Newton etwas mehr Zeit damit gelassen hatte.
Und noch in der gleichen Nacht erhielten mehrere Haushalte in St. David’s und London die frohe Nachricht:
Sehr geehrte Damen und Herren,
Wir freuen uns, Ihnen feierlich die Verlobung von
Armando Ignatius Newton
und
Louise Audrey Ratcliff
bekannt zu geben. Der grosse Ball zu Ehren der Verlobten findet am 14. Februar 1940 in Berkley Park in St. David’s statt.
Wir bitten Sie, auf die Weiden von Berkley Park zu apparieren, um dem Geheimhaltungsabkommen gerecht zu werden und Magie während der Feier auf ein Minimum zu konzentrieren, da Muggel anwesend sein werden.
Hochachtungsvoll,
Familie Newton
14. Februar 1940
Mittwoch
Finnische Note an Russland, welche auch vielen anderen Regierungen bekannt gemacht wird, wirft dieser "illegale" Methoden der Kriegsführung vor, unter anderem die wahllose Bombardierung unverteidigter Städte, Krankenhäuser und Eisenbahnzügen sowie die missbräuchliche Verwendung der "Weißen Fahne" (einige russische Soldaten haben vor dem Angriff ihre Kapitulation vorgetäuscht).