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Marina and the Diamonds - To be Human

 

"Encounters"
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Tagesprophet vom 5. Januar 1940

London – Der deutsche Walter K., welcher in den frühen Morgenstunden des 4. Januar im Zaubereiministerium festgenommen wurde, wird noch immer verhört. Für heute ist eine Anhörung vor dem Zaubergamot unter der Leitung von Gawain Jusnes geplant, bei welcher die Anklagepunkte festgelegt werden sollen. Vermutet wird, dass Mr. K. wegen des Verdachts auf Spionage, Sachbeschädigung, versuchter Diebstahl und Hausfriedensbruch angeklagt wird. Darauf stehen laut magischem Gesetz des Vereinigten Königreiches bis zu 15 Jahre Haft in Askaban.

 

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Armando hatte die Nase so voll. Es war Freitagabend, und wie an jedem Freitagabend wurde er zum Abendessen bei seinen Eltern erwartet. Es war eine anstrengende Woche gewesen und er wollte nichts mehr, als auf seinem Fuchshengst über die einsamen Weiten des Weidelandes rund um St. David’s zu reiten. Aber daraus würde in den nächsten Stunden wohl nichts werden. Frustriert atmete Armando tief aus. Dies war nun einmal seine Bestimmung, sein Erbe, seine Verantwortung. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Und es war nicht angängig, dieser zu entgehen.

Armando war so eben vor das grosse schmiedeeiserne Tor von Berkley Park appariert und sprach nun mit fester Stimme in die Dunkelheit: «Armando Ignatius Newton erbittet Eintritt»

Eine Sekunde später öffnete sich das Tor lautlos wie ein Schatten und Armando schritt zügig über den gekiesten Weg in Richtung Haupthaus, das auf dem kleinen Hügel über dem Waldrand thronte. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, den Anblick der hell erleuchteten Fenster im letzten Abendlicht und der grauschwarzen Mauern, die das weitläufige Gebäude umgaben wie eine Festung zu verachten Dies war nicht sein Zuhause, es war ein Ort voll düsterer Erinnerungen, denen er schon viel zu lange versuchte, zu entgehen.

Erfüllt von wehmütigen Gedanken ging Armando unter dem Torbogen auf den grossen Innenhof zu, in dem ein silberner 18 Consort im aufgehenden Mondlicht glänzte, das neueste Spielzeug seines Vaters. Als Armando leichtfüssig die breite Steintreppe zum Hauptportal heraufsprang, öffnete sich die grosse hölzerne Tür mit den wunderschönen Blumengravuren bereits von alleine. Sie tat das nur für ihn und seine Mutter, sein Vater dagegen hasste diese magischen Spielereien. Die Bediensteten hatten sich schon lange abgewöhnt, sich darüber zu wundern.

In der Eingangshalle erwarteten ihn bereits zur rechten vier Diener in dunkelgrauen Anzügen mit weissen, gestärkten Kragen und ebenfalls weissen Handschuhen, die sich alle gleichzeitig vor ihm verbeugten. Zur linken standen vier Mägde in langen, grau-weiss gestreiften Kleidern, die Köpfe respektvoll gesenkt und in einen tiefen Knicks versunken. Ohne sie weiter zu beachten lief Armando an ihnen vorbei und schritt die grosse geschwungene Treppe in Richtung Speisesaal hoch. Auch wenn das Schloss etwas über zweihundert Räume besass, wusste er auf Anhieb, wo er seine Familie finden würde.

Das Leben in Berkley Park bedeutete, viele Treppen steigen zu müssen. Insgesamt 2574 Stufen verteilt auf verschiedensten Treppenhäuser und vier Geschosse plus zwei Kellergeschosse umfasste Berkley Park. Es bedeutete nicht nur für Armando sein persönliches Gesundheitsprogramm, sondern auch für die dutzenden Angestellten jede Menge Arbeit, denn all diese Treppenhäuser und kilometerlangen Flure dazwischen mussten natürlich jeden Tag gewischt werden. Im Obergeschoss angekommen erreichte Armando endlich das Esszimmer. Schwungvoll öffnete der vor der Tür wartende Butler die Tür für ihn und verkündete hoheitsvoll: «Master Armando, Sir!»

Unauffällig warf Armando einen Blick auf die grosse goldene Standuhr, die hinter dem langen Esstisch stand. Zwei Minuten vor acht Uhr. Perfekt! Wenn sein Vater etwas hasste, war es Unpünktlichkeit, neben diversen anderen Dingen. Das war doch schon einmal ein guter Start in den Abend.

«Guten Abend, Mutter, Vater», sagte er respektvoll und hauchte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange, danach nickte er seinem Vater kurz zu. Armando setzte sich, und sofort begannen Mägde, das Dinner zu servieren. Vorsichtig spähte er auf die Teller mit dem goldenen Rand. Was er da entdeckte, sah aus wie winzige Gurkensandwiches mit einer Butter, die stark nach Zitronen roch. Obwohl die Menge an angetragenem Essen mikroskopisch aussah, machte sich Armando kaum Sorgen, nicht satt zu werden. Wie er seine Mutter kannte, hatte sie ungefähr fünf Gänge geplant. Das Abendessen würde sich also für mindestens zweieinhalb Stunden hinziehen. Armando unterdrückte ein Seufzen.

Das Tischoberhaupt sprach das Gebet, anschliessend wurde mit dem Essen begonnen. Eine Weile assen sie schweigend, dann ergriff sein Vater das Wort: «Armando, erzähl uns etwas Spannendes von deiner Arbeit. Was macht eure Parallelregierung so? Erledigst du deine Aufgaben zur Zufriedenheit deiner Vorgesetzten?»

Der Angesprochene unterdrückte den Drang die Augen zu verdrehen und antwortete höflich: «Es geht sehr gut. Der Minister persönlich hat mich um meine Meinung zu einem Lagebericht unserer Spione in Zentraleuropa gebeten. Anscheinend gruppiert sich dort eine Ansammlung Zauberer, die sich die "Letzten Walpurger" nennen. Sie scheinen Andersdenkende und muggelstämmige Zauberer zu verfolgen, ebenso wie nichtmagische Menschen. Ich bin der Meinung, diese Vereinigung ist nicht nur hochgefährlich, sondern ebenso kriminell und gehört dringend verboten. Ich hatte dem Minister, Mr. Spencer-Moon, vorgeschlagen, die Teilnahme in dieser Organisation in Grossbritannien unter Strafe zu stellen…», doch sein Vater unterbrach ihn: «Nun, der Minister ist bestimmt nicht an deiner Meinung interessiert, er hatte schliesslich nur um eine Einschätzung eines Berichtes gebeten!»

Armando schluckte seinen Ärger herunter. Das war so typisch für seinen Vater. Auf der einen Seite zeigte er keinerlei Respekt für die Regierung seiner Ehefrau und seines Sohnes, auf der anderen Seite forderte er von Armando trotzdem Bestleistungen, natürlich, etwas anderes wäre mehr als unangemessen gewesen. Während Armando noch an einer angemessenen Antwort arbeitete, brachten die Dienerinnen bereits den nächsten Gang herein, einen Salat, augenscheinlich mit Coronation Chicken, allerdings wieder eine mikroskopisch kleine Portion. Glück gehabt, da war er wohl gerade noch einmal um eine Antwort herumgekommen.

Seine Mutter fing schnell an, von ihren Charity-Organisationen zu erzählen, wie sie ins Waisenhaus ging und den Kindern dort Lesen beibrachte. Oder wie sie mit den anderen Damen höheren Standes Kuchen buk für einen Basar, um das Geld der örtlichen Schule zu spenden, damit diese den Kindern aus ärmeren Familien ein Mittagessen stellen konnte. Natürlich hatte dies den Vorteil, dass sie so schnell Kinder erkannte, welche eventuell magische Fähigkeiten aufwiesen. Das kam gleichzeitig ihrer magischen Wohltätigkeitsorganisation zugute, für welche sie Muggel-Familien mit magischen Kindern unterstützte.

Armando wusste, warum sie so begeistert von ihren guten Taten erzählte. Sie versuchte, den Anschein einer normalen Familie zu erwecken, um ihren Ehemann zu besänftigen. Noch bevor Cassiopeia ihren Bericht beenden konnte, wurde bereits der dritte Gang hereingetragen, eine Braised Oxtail Soup mit geraspeltem Stilton. Das Essen schien sich bis zur Unendlichkeit hinzuziehen.

«Übrigens», sagte Armando in einen kurzen Moment der Stille, «habe ich letzte Woche Louise einen Heiratsantrag gemacht. Wenn alles seinen Gang geht, werden wir wohl im Laufe des Spätsommers heiraten.» Er sagte es nüchtern, ohne viel Elan dahinter. Doch seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Seine Mutter jauchzte erfreut auf und sein Vater zeigte zum ersten Mal an diesem Abend einen zufriedenen, ja fast schon anerkennenden Gesichtsausdruck.

«Sehr gut, sehr gut!», rief sein Vater mit dröhnender Stimme aus, «Louise ist holdselig und ihr Vater ist überaus honett. Eine Heirat in diese Kreise wird dir eine ganze Reihe neuer Türen öffnen.»

Seine Mutter ergänzte: «Fürwahr, was für eine bezaubernde Überraschung!»

Der nächste Gang wurde angetragen. Roastbeef mit Yorkshirepudding und Wirsingkohl, kunstvoll auf den Teller drappiert. Armando warf einen weiteren Blick auf die Uhr. Gleich neun. Dann blickte er in die erfreuten, ja fast schon stolzen Gesichter seiner Eltern. So glücklich hatte er sie schon länger nicht mehr gesehen. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, Louise zu heiraten. Alles würde gut werden.

 

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Sie schrubbte und schrubbte, aber der Wachsfleck auf dem grossen Holztisch wollte einfach nicht weggehen. Nellie war gerade dabei gewesen, die Möbel, die Mrs. Weasley hatte liefern lassen, in die einzelnen Räume zu sortieren. Es war eine schlichte Ausstattung, aber die einzelnen Stücke waren jeweils von hoher Qualität. Der Esstisch aus Apfelholz für die Speiseecke. Das Sofa mit den dunkelblauen Samtpolstern für die Wohnnische. Das Buchenholz-Regal dahinter, gleich neben die grosse Feuerstelle, in die gemütlich ein normalgrosser Mann hätte stehen können. Dann ein kleinerer Tisch für die Küche, aus unlackiertem Eichenholz.

Für das grosse Schlafzimmer, in das ihr neuer Herr einziehen würde, war ein breites hölzernes Bett mit einem leichten weissen Vorhang geliefert worden, dazu ein Nachttisch und ein grosszügiger Kleiderschrank. Für das Studierzimmer im Obergeschoss einen Tisch und einen hölzernen Stuhl, ausserdem ein weiteres Regal, alles in zueinander passendem, klar lackiertem Holz. Und natürlich Nellies Möbel, die allerdings schon vor ihrer Ankunft dagewesen waren. Ein Bett, ein kleiner Tisch, ein Stuhl und ein schmaler Schrank, alles aus sehr schlichtem, schon leicht verwittertem Holz. Trotzdem waren ihre Möbel aus guter Qualität, und die Matratze schien sogar neu zu sein.

Ja, Mrs. Weasley hatte sich grosse Mühe gegeben, das kleine Häuschen wohnlich zu gestalten, das sie ihrem Neffen geschenkt hatte. Nun waren heute die letzten Möbel geliefert worden, und Nellie hatte sich sofort daran gemacht, sie auf Hochglanz zu polieren, immerhin sollte ihr neuer Herr bereits am Samstag einziehen, und es war ja schon Freitag. Sie hatte also die Holzpolitur herausgenommen und alle Möbel damit gesäubert. Zudem natürlich die Fenster trotz der Kälte weit geöffnet, damit der Geruch nach frischer Farbe verfliegen würde. Zuletzt hatte sie noch den Holzboden gewienert und die Küche und das Bad geputzt. Sie war fast bereit gewesen.

Doch dann war sie leider auf die dumme Idee gekommen, Kerzenleuchter im Haus zu verteilen. Sie hatte die Kerze auf dem Küchentisch angezündet, damit sie bei der Zubereitung einer bescheidenen Abendmahlzeit für sich etwas mehr Licht hatte. Doch das Wachs war auf den Tisch getropft und Nellie wollte einen tadellosen ersten Eindruck hinterlassen, deswegen musste dieser Fleck unbedingt weg. Aber sie schaffte es einfach nicht, wie sehr sie auch rubbelte und schrubbte. Was sollte sie nur tun? Was würde wohl Madam Enoch zu ihr sagen, fragte sie sich und schickte im gleichen Moment ein kurzes Vater-unser gen Himmel, um für das Seelenheil ihrer ehemaligen Herrin zu beten.

Natürlich wusste sie die Antwort. Madam Enoch hatte ihr einen Zauber beigebracht, mit dem sie Gegenstände reinigen konnte, doch wie war der gleich noch gegangen? Ratzefix? Nein, es war Ratzeputz gewesen und mit diesem Gedanken kramte Nellie kurz in ihrer Rocktasche und zog den krummen Zauberstab hervor. Sie schwang ihn kurz, sagte die Worte klar und deutlich, konzentrierte sich angestrengt darauf, dass die Tischfläche wieder sauber wurde und kniff dabei angestrengt die Augen zusammen. Als sie sie wieder öffnete, war der Tisch zumindest etwas sauberer. Man konnte den Fleck kaum noch sehen. Nun gut, dachte sich Nellie, das musste genügen. Schnell schickte sie ein weiteres kurzes Gebet zu ihrem Jesus, um sich für die verwendete schwarze Magie zu entschuldigen und hoffte gleichzeitig, dass ihr neuer Herr sie nicht schimpfen würde wegen des Flecks auf seinen nagelneuen Möbeln.

Sie hatte eine Menge geleistet. Die Handwerker hatten die Wände neu gestrichen und die Möbel geliefert. Ausserdem hatten sie ein unverschämt modernes Badezimmer für den Herrn Septimus eingerichtet, sogar mit einer Badewanne und eine kleine Nasszelle mit Dusche für Nellie, gleich neben ihrer Kammer. Sie war froh, dass sie sich nicht das Bad mit ihrem Herrn teilen musste, das hätte sich schliesslich schon von Standes wegen nicht gehört und ausserdem war er ja ein Mann. Sie hatte noch nie ein eigenes Bad gehabt, ganz für sich alleine, und schon gar keine Dusche! An diesen Luxus, den sie fast schon unverfroren fand, würde sie sich erst noch gewöhnen müssen. Ausserdem hatte sie die Handwerker bezahlt, und es war sogar noch eine gute Menge des Geldes, welches Mrs. Weasley ihr gegeben hatte, übriggeblieben. Das Restgeld würde sie natürlich ihrem neuen Herrn übergeben, sobald dieser morgen eintreffen würde. Sie war definitiv zufrieden mit sich und ihrer Arbeit gewesen.

Nun war es bereits spät am Abend und es wurde Zeit für Nellie, zu Bett zu gehen. Sie stieg die Treppe hoch in ihr Kämmerchen unter dem Dach und zog sich aus. Im Fenster, welches durch das Kerzenlicht in ihrer Kammer erleuchtet war, sah sie ihre Spiegelung. Sie betrachtete ihren Körper. Schlecht sah sie nun nicht aus. Sie hatte einen hübschen Körper, dachte sie, mit einer schmalen Taille und breiten Hüften. Sie fand, dass sie von ihrer Figur her ein kleines bisschen wie die Marienstatue in der Kirche in ihrer Heimat aussah, für sie der Inbegriff von Schönheit. Sofort schimpfte sie sich in Gedanken, wie konnte sie es nur wagen sich mit einer Heiligen, ja, der Mutter Gottes zu vergleichen. Nur ihr Gesicht, das sie in dem unscharfen Spiegelbild kaum erkennen konnte, fand sie etwas schlicht, aber so gehörte es sich für eine Magd schliesslich auch.

Schnell wandte sie sich vom Fenster ab. Sie sollte besser schlafen gehen. Mrs. Weasley hatte ihr nicht genau gesagt, wann der Herr Septimus kommen würde, nur, dass es am Samstag, den 6. Januar so weit sein würde. Deswegen würde sie frühmorgens, mit der ersten Morgensonne aufstehen, um das Haus noch einmal kurz zu fegen, letzte Hand an ein paar Details zu legen und ein Feuer im Kamin zu entzünden.

Sie zog sich ihr weisses Nachthemd über, knöpfte es über der Brust zu und schlüpfte unter ihre kalte Bettdecke. Sie zog die Knie bis fast an die Brust und hüllte sich fest in die Decke ein. Gleich würde es wärmer werden. Natürlich hatte Nellies Zimmer keinen eigenen Kohleofen und das Privileg, das Zimmer über der warmen Küche zu haben, war dem Hausherren vorbehalten. Ihre Gedanken verloren sich zu ihrem neuen Herrn. Ob er wohl so aussah, wie sie sich ihn vorstellte? In ihrem Kopf war er grossgewachsen, mit goldblonden Locken. Dazu hatte er strahlend blaue Augen und starke Arme. Er hatte ebenmässige Haut, Wangenknochen, die wie gemeisselt aussahen und eine gerade Nase, genau wie der Erzengel Gabriel auf dem Gemälde, dass ihr ehemaliger Herr besessen hatte. Natürlich wusste sie überhaupt nicht, wie er aussah! Vermutlich war er ein älterer Mann, so Ende vierzig und hatte bereits ausgeprägte Geheimratsecken. Dazu einen gräulich schwarzen Ziegenbart vielleicht und ein Monokel. So sah ein Arzt aus, nicht wie ein zur Erde gekommener Engel.

Nellie spürte, wie sich ein unangenehmes Ziehen in ihrem Unterbauch ausbreitete. Sie versuchte es zu ignorieren, aber es ging nicht weg. Dann griff sie vorsichtig mit ihrer rechten Hand unter ihr Nachthemd. Und fing an, sich selbst zu berühren. Das Ziehen nahm zu, wurde aber weniger unangenehm. Nellie fing an zu reiben und vorsichtig zu kneten. Vor ihrem inneren Auge sah sie einen stattlichen blonden Mann mit leuchtend blauen Augen, der sie fest in seinen Armen hielt. Ihre Bewegungen wurden heftiger, rascher, intensiver. Ihre Beine fingen an zu zittern und ihr Atem ging schneller. Dann kam die Erleichterung, Nellie stöhnte auf. Drehte sich rasch zur anderen Seite, versuchte einzuschlafen und zu vergessen, was sie da gerade getan hatte. Und fühlte sich so schuldig, dass sie sogar vergass, vor dem Einschlafen zu beten.

 

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Die Eingewöhnungszeit war Eliza schwergefallen. Natürlich genoss sie die Freiheiten, die Garrick Ollivander ihr liess. Sie hatten sich im Haus unauffällig zu verhalten und durften unter keinen Umständen, niemals, seinen Dachboden betreten, wo er einen Grossteil des Tages und oft auch die Nacht verbrachte. Anscheinend baute oder bastelte er da an etwas, vermutlich an seinen Zauberstäben, denn wie Eliza mittlerweile aus ihm herausbekommen hatte, war er Zauberstabmacher.

Doch auf der anderen Seite gab es rein gar nichts für Eliza und Bo zu tun. Klar, sie hatte in den letzten zwei Tagen seit ihrer Ankunft angefangen, für sie drei den Haushalt zu erledigen, putzte das kleine Häuschen regelmässig und sorgte für ein kaltes Mahl am Morgen und eine warme Mahlzeit am Abend auf dem Tisch. Doch das nahm gerade einmal einen Bruchteil ihres Tages in Anspruch. Ollivander dagegen bekamen sie kaum je zu Gesicht.

Als Eliza an ihrem ersten Tag in St. David’s vorsichtig an seine Dachbodentür geklopft und schüchtern gefragt hatte, ob er mit ihnen eine kalte Brotzeit zu sich nehmen wolle, hatte er sie nur mürrisch angeknurrt, sie solle ihn nicht bei seiner Arbeit stören. Dabei hatte Eliza einen raschen Blick auf seine Werkstatt unter dem Dach erhaschen können. Vor dem Fenster, am hellsten Ort im Raum, stand ein grosser Pult. In den Regalen an den Wänden stapelten sich Äste verschiedener Länge, Dicke und Farbe, und auf dem Tisch lagen verschiedene Federn und andere Materialien, anscheinend magischer Herkunft, denn einige dieser Gegenstände leuchteten auf seltsame Art oder glitzerten in der matten Mittagssonne, die sich durch das schmutzige Fenster kämpfte. Dann aber war Garrick Ollivander bereits zur Tür gestürmt gewesen und hatte sich breitbeinig in die Türöffnung gestellt und ihr so den Blick in sein Allerheiligstes verwehrt.

Allgemein war Eliza bereits aufgefallen, wie dreckig es in dem Haus war. Die Fenster waren staubverkrustet. Der Boden schien zwar regelmässig gefegt zu werden, aber auf so schludrige Art, dass sich in den Zimmerecken trotzdem Wollmäuse sammelten. Die Teppiche im Wohnzimmer waren schon recht zerschlissen. Und die Gardinen, die vor neugierigen Blicken schützen sollten, hätten auch mal wieder eine gründliche Reinigung vertragen können. Deswegen hatte sich Eliza vorgenommen, ab jetzt jeden Tag einen Raum des recht vernachlässigten Hauses auf Vordermann zu bringen.

Doch heute war das Wetter zum ersten Mal seit Mittwoch schön gewesen. Der starke Ostwind der letzten Nacht hatte relativ warme Luft, knapp um den Gefrierpunkt gebracht und die Wolken weit aufs Meer hinausgetrieben. Die Sonne schien fast schon warm und ihre Reflektionen im Schnee auf den Feldern blendeten.

Deswegen hatte Eliza beschlossen, einen kleinen Spaziergang zu machen. Und sie wollte Bo mitnehmen. Natürlich barg es ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Aber es würde ihm guttun, er war sowieso schon viel zu blass. Eliza stellte sich vor, wie sie mit ihm einen Schneemann baute oder eine kleine Schneeballschlacht veranstaltete. Und wie sie mit ihm auf den Freitagsmarkt ging, wo die Farmer der umliegenden Höfe ihr Wintergemüse, Kohl, gelbe Rüben und Winteräpfel verkauften.  Denn Ollivander mochte vielleicht ein Genie sein, was die Herstellung von Zauberstäben anging, zumindest tat er immer so. Aber in Sachen Haushaltsführung war er kein besonderes Talent und Eliza war bereits aufgefallen, dass seine Speisekammer jämmerlich leer aussah.

Am Morgen hatte Eliza ein schlichtes Frühstück bereitet, bestehend aus zwei gekochten Eiern, einem harten Kanten Brot und ein paar leicht verschrumpelten Äpfeln, die sie in der hintersten Ecke der Speisekammer gefunden hatte. Sie hatte auch einen kleinen Teller mit einer Brotzeit für Mr. Ollivander gerichtet und ihm vor seine Dachbodentür gestellt. Er mochte vielleicht ein grantiger Sturkopf sein, aber Eliza konnte trotzdem nicht zulassen, dass der ohnehin schon hagere Mann vor lauter Arbeitswut verhungerte, immerhin brauchte sie ihn noch. Kurz überlegte sie an die Tür zu klopfen und ihn für ein paar Münzen für die Einkäufe zu bitten. Aber so verwegen war sie dann doch nicht, ihn nochmal bei der Arbeit zu stören und so hatte sie beschlossen, das Geld für ein wenig Gemüse und Mehl vorzuschiessen, sie konnte es ja dann immer noch von ihm zurückfordern. Schnell schaute sie in ihre lederne Börse. Ein paar der komischen silbernen Münzen von ihrer Tante waren noch übrig, ansonsten fanden sich vor allem deutsche Groschen, ein Thaler und ein gutes Dutzend Heller.

Anschliessend hatte Eliza die Küche gründlich gewischt, die vielen Krümel vom Tisch gefegt und auf magische Art den Ofen auf Hochglanz poliert. Naja, zumindest war es jetzt sauberer als vorher. Von Hochglanz konnte man vielleicht noch nicht ganz reden, immerhin war Eliza alles andere als talentiert in Haushaltszaubern. Tante Fanny hatte zwar ihr Bestes gegeben, sie in Haushaltsführung einzuweisen, aber Eliza wies einfach keine Begabung für diese Art der Magie auf.

Bo war schon den ganzen Morgen auffällig still gewesen und hatte nur Parade mit seinem Zinnsoldaten gespielt. Auf und Ab, Auf und Ab, der Zinnsoldat war mit leisem Klappern von links nach rechts und von rechts nach links gewandert. Den ganzen Morgen. Eliza war besorgt. Immer wenn er so versunken war, so stoisch rhythmisch Bewegungen wiederholte, passierte kurz darauf etwas. Papperlapapp! Es würde schon alles gut gehen. Sie sollte sich nicht so ins Boxhorn jagen lassen.

Also packte sie sich und Bo warm ein, beschwor magisch eine warme Pudelmütze und Fäustlinge und einen ebenso warmen Schal herauf, bevor sie seinen dünnen Sommermantel eine zusätzliche Stoffschicht verpasste. So war es doch gleich besser. Klar, ganz so perfekt wie Gerdas Handarbeiten würde es nicht werden. Aber es würde allemal ausreichen. Die gleiche Prozedur wiederholte sie bei ihren Kleidern, denn bei ihrer Flucht war es ihr natürlich nicht möglich gewesen, allzu viele Kleider mitzunehmen, ausserdem wäre es auffällig gewesen, wenn man sie im Sommer mit Winterkleidung erwischt hätte.

Als sie endlich zufrieden mit ihrem Aufzug war, öffnete sie die hölzerne Türe von Ollivanders Häuschen und sog erstmal tief die Luft ein. Die salzige Luft liess einen sofort wissen, dass man sich in der Nähe des Meeres befand. Dazu das klagende Kreischen der Möwen, die über das Haus segelten. Der starke, fast sturmartige Wind von letzter Nacht hatte sich gelegt und in eine milde Brise verwandelt, die das Gesicht mehr umschmeichelte als erfrieren liess.

Für einen Moment schloss sie die Augen, stellte sich vor, dass sie nicht an der Atlantikküste, sondern an der Ostseeküste war. Ein bisschen weniger stürmisch, ein bisschen weniger feucht, ein bisschen weniger salzig, aber ansonsten sehr ähnlich. Wie schön wäre es, jetzt dort zu sein. Mit ihrem Vater einen Strandspaziergang zu machen, während Bo aus Sand kleine Kuchen buk. Zu ihrer Mutter in die Küche zu kommen, wo sie die Haushälterin instruierte, wie sie den Kuchen für das Mittagsdessert haben wollte. Dann öffnete Eliza die Augen und war zurück in Wales, am äussersten Rand Grossbritanniens. Kurz überlegte Eliza, ob sie Ollivander Bescheid sagen sollte, dass sie Spazieren gingen. Dann entschied sie sich dagegen ihn zu stören und beschwor stattdessen schnell einen Zettel hervor, den sie ihm mit einer kurzen Notiz auf den Küchentisch legte.

«Komm Bo, lass uns einen Schneemann bauen», sagte das Mädchen, und mit diesen Worten ergriff sie die Hand ihres Bruders und lief mit ihm los, in Richtung der weiten Felder, die zwischen ihrem Haus am Waldrand und der Stadt St. David’s waren und auf denen trotz des schönen Wetters immer noch eine ordentliche Menge Frischschnee lag.

Während sie so dahinspazierten, grübelte Eliza über ein ganz neues Problem nach. Bo musste unbedingt auf ein Leben nach seiner Kindheit vorbereitet werden. Er war jetzt neun Jahre alt, konnte bereits schreiben und flüssig lesen, und auch das Rechnen gelang ihm recht gut. Doch das würde nicht reichen, er musste weitere Dinge lernen, das Klavierspiel vielleicht, sicher Biologie und etwas Physik, dazu natürlich Literatur und Sprachen, am besten Französisch. Wo sollte er all das lernen, sie konnte ihn schliesslich nicht in eine öffentliche Schule stecken. Schon nach wenigen Tagen würden sie vermutlich enttarnt werden!

Und dann natürlich seine gesamte magische Ausbildung. Seine Mutter hatte bis jetzt nur angefangen ihm beizubringen, wie er seine magischen Ausbrüche kontrollieren konnte. Doch natürlich hatte er noch keinen Zauberstab, denn die magischen Regierungen von Europa hatten sich darauf geeinigt, dass junge Magier ihren Stab erst mit elf Jahren bekommen sollten. Einen Zauberstab für ihn zu bekommen schien kein übermässiges Problem darzustellen, schliesslich sassen sie bei Ollivander ja direkt an der Quelle, auch wenn Eliza sich noch nicht vorstellen konnte, wie sie ihn für seine Arbeit entlöhnen könnte. Doch wer sollte Bo das Zaubern beibringen? Ollivander hätte sicher besseres zu tun und sich selbst traute es Eliza nicht so ganz zu. Sie war keine schlechte Hexe, eher durchschnittlich, aber Bo war nun einmal kein durchschnittliches Kind.

Sie würde sich eine Lösung für dieses Problem einfallen lassen. Sie wusste, dass es eine magische Schule in Schottland gab, Hogwarts hiess sie. Vielleicht gab es ja eine Möglichkeit, dass Bo da aufgenommen wurde, verlor sich Eliza kurz in ihren Wunschträumen. Papperlapapp! Energisch schüttelte Eliza den Kopf. Du weisst genau, dass er nie auf eine Schule gehen kann, nicht einmal eine wie Hogwarts. Das ist zu gefährlich! Sie hatte gar nicht gemerkt, wie lange sie schon schweigend ins Nichts gestarrt hatte, doch jetzt riss sie Bos Stimme aus ihren Gedanken: «Eli, nicht so viel grübeln. Alles wird gut werden. Ich weiss es.»

Und Eliza wusste, dass er Recht hatte. Bo hatte immer Recht behalten. Er hatte sich noch nie geirrt, noch nie einen Fehler gemacht. Kurz blickte sie herunter zu ihm. Er war schon so unglaublich erwachsen. Viel zu alt für seine jungen neun Jahre. Sie hätte ihm so sehr eine unbeschwerte Kindheit gewünscht. Das war so ungerecht! Eliza spürte, wie sich wieder die schmale Falte auf ihrer Stirn bildete, die immer auftauchte, wenn sie sich ärgerte oder angestrengt nachdachte. Ihre Mutter pflegte dann immer mit dem Finger sanft darüber zu streichen und zu sagen: «Nicht die Stirn runzeln, das gibt nur Falten und nützt niemandem etwas.»

Eliza vermisste ihre Mutter. Die Verantwortung, die sie ihr immer abgenommen hatte. Erst jetzt, so auf sich alleine gestellt, bemerkte Eliza, wie viel ihre Mutter immer gestemmt hatte. Nicht nur die Verantwortung für Bo, die nun wirklich keine leichte war, auch die ganze Sache mit dem Haushalt. Klar, Ollivander zwang sie nicht, für ihn zu putzen und zu kochen. Doch wenn sie es nicht tat, tat es auch sonst niemand und Eliza konnte ihren kleinen Bruder ja schlecht verhungern lassen.

Aber viel mehr noch als ihre Mutter vermisste sie ihren Vater. Seine schweigsame Art ihr einen Ratschlag zu geben. Sein zuversichtliches Lächeln, wenn sie ihm von ihren Lebensträumen erzählte. Sein Schmunzeln, wenn sie ihm einen von Gerdas Briefen aus dem Internat vorlas. Wie er sie abends vor dem Zubettgehen in den Arm nahm oder ihr eine heisse Milch mit Honig ins Zimmer brachte, wenn sie spätnachts noch über irgendwelchen Büchern sass und las. All seine Liebe, seine Unterstützung, seine Weisheiten, sein Schweigen und sein Lachen. Sie vermisste es. Und jedes Mal, wenn sie dem grummeligen Ollivander im Flur oder der Küche begegnete, sehnte sie sich mehr nach der Wärme ihres Vaters.

«Hier ist der richtige Ort», unterbrach die selbstbewusste Stimme Roberts ihre Gedankengänge. Sie fragte sich, was das wohl wieder heissen sollte. Sie wollten schliesslich nur einen Schneemann bauen. Das Feld erstreckte sich in alle Richtungen mindestens eine Meile weit. Es gab hier keine richtigen oder falschen Orte. Aber sie hatte sich schon vor Jahren abgewöhnt mit Bo zu diskutierten, wenn er einmal einen Entschluss gefasst hatte.

Also nickte sie nur und fing an mit dem Zauberstab leicht zu kreisen. Ein kleiner Schneeball kam ins Rollen und je mehr er über den Boden rollte, desto grösser wurde er. Schliesslich war sie zufrieden mit ihrer Arbeit und schaute Bo fragend an, ob auch er einverstanden war. Doch er blickte gar nicht zu ihr, sondern sah nur zufrieden in die Ferne, in südliche Richtung, wo aber nichts zu erkennen war, ausser der schwachen Vormittagssonne und ein paar einsamen Seevögeln am Himmel.

«Was siehst du, Bo?», fragte sie in mit sanfter Stimme. War er noch da? Oder war er gerade … woanders? Prüfend sah sie ihren Bruder an. Dann öffnete dieser den Mund und antwortete langsam: «Gleich Eli, hab nur Geduld.»

Eliza sah ihm noch einmal prüfend an, dann richtete sie den Blick wieder in die gleiche Richtung wie er. Dann sah sie es. Da, kaum erkennbar im eisigen Morgennebel, der über das verschneite Feld strich, näherte sich jemand von den schwarzen Klippen am Dorfrand her, die sich blass am Horizont abzeichneten. Je länger sie gebannt zusah, desto mehr liess sich erkennen. Zuerst sah sie, dass es eine grössere und eine sehr kleine Gestalt waren. Dann meinte sie zu sehen, dass eine der Personen ein Kind sein musste, so klein wie es war. Und als die Gestalten schon beinahe bei ihnen angekommen waren, erkannte sie, dass die grössere Person eine Frau war, auch wenn es bei ihrem warmen Mantel nur schwer zu erkennen war.

Sie blickte wieder zu Bo, der sehr glücklich mit der Situation schien. Er hatte es nicht nur gewusst. Er schien diese Begegnung geplant zu haben! Eliza unterdrückte ein Schnauben, dann wandte sie sich der Dame zu, die sie mittlerweile erreicht hatte.

«Guten Tag, die Dame. Was für ein angenehmer Morgen für einen Januarspaziergang», sagte sie höflich.

«Da haben Sie Recht, guten Morgen. Was für ein ungewöhnlicher Ort jedoch für eine Begegnung. Ich hatte nicht erwartet, hier jemanden anzutreffen.»

«Nun, da geht es ihnen wie mir», antwortete Eliza. Dann besann sie sich schnell ihrer guten Kinderstube: «Ich glaube, wir sind uns noch nicht vorgestellt worden. Eliza Goldstein aus London, und das hier ist mein Bruder Robert Junior.» Natürlich waren sie sich noch nicht vorgestellt worden, immerhin war Eliza erst vor zwei Tagen hier angekommen und kannte ausser dem grimmigen Ollivander noch niemanden. Aber sich an die strengen Regeln der Konversation zu halten, half ihr, nicht die Nerven zu verlieren und etwas Dummes zu sagen. Immerhin gingen ihr diese Worte nun deutlich flüssiger über die Zunge, auch wenn sie immer noch ein unangenehmes Kribbeln hinter den Ohren spürte. Anscheinend war ein Gespräch mit einer fremden Dame einfacher als mit einem fremden Herrn. Zumal diese Frau überaus sympathisch schien.  

«Angenehm, sehr erfreut», erwiderte die Angesprochene. «Amelia Thompson aus St. David’s, und mein Sohn hier heisst Charlie»

Das Kind hatte sich in der Zwischenzeit schon von der Hand seiner Mutter gelöst und angefangen den Schneemann mit Bo weiterzubauen. Die beiden schienen viel Spass zu haben, auch wenn dieser Charlie nicht einmal halb so alt wie Robert schien. Trotzdem reichte er von der Höhe fast schon an ihren kleinen Bruder an, der allerdings auch sehr schmächtig für sein Alter war. Eliza spürte, wie ihr bei dem Anblick das Herz aufging. So gelöst hatte sie ihren Bruder schon seit einer Weile nicht mehr gesehen. Aber es war schon immer so gewesen, dass er am besten mit jüngeren Kindern klarkam, mit Altersgenossen schien er dagegen zum Teil Probleme zu haben. Die Worte der Mrs. Thompson rissen sie aus dem Anblick: «Und was treibt eine Dame aus der grossen Stadt in unser verschlafenes Nest, wenn ich fragen darf?»

Eliza fing an mit ihrer Standardantwort: «Nun, wir wurden von der Regierung aufs Land geschickt, da der Krieg auf dem Festland inzwischen auch die Hauptstadt bedroh…»

Doch in diesem Moment sah sie gerade noch aus dem Augenwinkel, wovor sie sich bereits seit Tagen gefürchtet hatte. Bo war zuckend zu Boden gegangen. Sie drehte sich um und machte noch reflexartig eine Bewegung, als wollte sie ihn auffangen, aber da schlug sein Kopf schon auf den eisigen Boden. Kleine Schneeflocken verfingen sich in seinem dunkelblonden Haar. Seine Augen waren nach oben verdreht, sodass man nur noch das Weisse sehen konnte und sein Mund stand leicht offen.

Charlie, der eben noch glucksend Schneebälle geformt hatte, versteckte sich erschrocken hinter seiner Mutter, die genauso erschüttert aussah. Eliza sprang zu ihrem Bruder, packte seinen Kopf mit ihrer Rechten mit festem Griff, umschlang mit der anderen Hand seinen Oberkörper und drückte ihn fest an sich. Vor Verletzungen schützen, sagte sie sich, wie in einem inneren Mantra. Atemwege offenhalten, und mit diesem Gedanken umklammerte sie leicht seinen Kiefer und überstreckte den Hals, in der Hoffnung, dass das genügen würde. Dann fing er an zu sprechen, doch es war nicht Bos normale Stimme. Diese klang, als würde sie von tief aus ihm drinnen herauskommen, wie aus einem Grab, krächzend und emotionslos.

«Steine fallen, Steine fliegen. Der Tag ist Nacht und die Nacht ist Tag. Menschen ohne Köpfe. Köpfe ohne Menschen. Menschen, Arme, Beine. Eine Armee der Toten. Sie kommen.» Die letzten Worte hauchte er nur noch bevor er verstummte. Ein Schaudern lief Eliza über den Rücken, obwohl ihr fast zu warm war mit dem dicken Mantel in der Januarsonne. Ein Japsen ertönte hinter ihrem Rücken.

Und als Eliza aufblickte, in das Gesicht der Amelia Thompson und ihren entsetzten Gesichtsausdruck sah, wusste sie, dass diese Frau keine normale Unwiss war. Das war eine Hexe. Und diese Hexe wusste genau, was hier gerade passiert war.  

 

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Das Dinner war gerade abgeräumt worden und Arielle und Septimus zogen weiter in den Salon, um dort eine Tasse Tee und einen kleinen Whiskey einzunehmen. Lancelot hatte eine Nachtschicht und war ausser Haus, welch ein Glück. Septimus verspürte keine besondere Abneigung gegen seinen grossen Bruder. Und doch, er konnte nicht von sich behaupten, dass er eine grössere Zuneigung seinem einzigen verbliebenen näheren Familienangehörigen gegenüber aufbrachte. Es gab keinen Hass zwischen den beiden Weasley-Brüdern, keinen unausgesprochenen Zwist, keine offene Fehde. Jedoch hatte Septimus schon seit seiner Kindheit, seit dem schrecklichen Unglück, das seine Eltern, seine Brüder und seine Schwestern in den Tod gerissen hatte, das Gefühl gehabt, dass Lancelot es ihm insgeheim vorwarf, dass er überlebt hatte und nicht zum Beispiel ihre Mutter.

Zudem Septimusals Jüngster seiner Eltern schon immer der Liebling gewesen war, nicht nur von ihnen, sondern auch von ihrer vermögenden Tante Arielle. Und so war es auch an diesem Tag gewesen, der schrecklich unschuldig begonnen hatte, mit einem Besuch seines Tantchens in ihrem Heimatdorf St. David’s. Seine Eltern waren nicht gerade arm gewesen, aber mit sieben Kindern war halt doch nie viel Geld übriggeblieben und so hatte Septimus oft die abgetragenen Kleider seiner älteren Geschwister übernommen. Und das hatte ihn auch eigentlich nie sehr gestört. Doch als seine Tante, eine feine Dame aus der Hauptstadt, bei ihnen in dem kleinen Häuschen angekommen war und seine löchrigen Stiefel gesehen hatte, hatte sie sofort darauf bestanden, mit ihm zum Schuhmacher zu gehen und ihm ein «anständiges Paar Schuhe» zu kaufen.

Und so war es gekommen, dass er und seine Tante nicht zuhause gewesen waren, als es zu der verheerenden Explosion gekommen war, die nicht nur seine Eltern, sondern auch seine Geschwister Caius, Sidonia, Juno, Iwein und Helena das Leben gekostet hatte. Der einzige, der es lebend aus der Flammenhölle geschafft hatte, war Lancelot gewesen. Natürlich waren die beiden schon vor dem grausamen Unglück nicht gerade eng gewesen. Septimus war schon immer eher seinem grossen Bruder Caius und seinen drei Schwestern nahe gestanden als eben dem etwas verschrobenen Lancelot. Und doch hätte er von sich behauptet, dass er sich redlich um ein gutes Verhältnis bemüht hatte. Doch Lancelot hatte ihn immer wieder abgewimmelt, hatte zugemacht, sein Innerstes vor seinem einzigen verblieben Bruder verschlossen und ihn nicht an sich herangelassen. Und es war Septimus bis heute ein Rätsel, welches Verbrechen er in den Augen seines älteren Bruders begangen hatte, dass dieser sich so vor ihm verschloss.

Während Septimus und Tante Arielle in den bequemen, mit pinkem Samt ausgekleideten Sesseln vor dem Kamin Platz nahmen, seufzte er innerlich auf. Er war, zugegebenermassen, erleichtert, endlich von hier auszuziehen, vor allem da sein Bruder noch immer in seinem alten Jugendzimmer im zweiten Obergeschoss hauste. Arielle regte sich schon seit Jahren auf, dass er mit seinen 29 Jahren immer noch bei ihr wohnte, während er erklärte, er würde einfach keine angemessene Wohnung in solcher Nähe zum St. Mungo-Hospital, seinem Arbeitsort, finden. Lustigerweise, hatte sie sich nicht nur nicht über Septimus beschwert, er solle endlich flügge werden. Nein, sie hatte ihn sogar mehrfach gefragt, ob er denn wirklich zurück in sein Heimatdorf ziehen wolle, es sei doch so einsam dort, so viele traurige Erinnerungen, die Leute seien dort ja schon sehr verschlossen…

Ja, Arielle Weasley konnte man wirklich des Favorisierens bezichtigen. Und auch wenn Septimus hoch in ihren Gunsten stand, ja ihr offensichtlicher Liebling war, fühlte es sich oft eher unangenehm für ihn an, als dass er es wirklich hätte geniessen können. Nicht nur weil sein Bruder Lancelot oft genug von seiner Tante kritisiert wurde. Doch nun würde Septimus ausziehen, seinen eigenen Haushalt gründen, endlich auf eigenen Beinen stehen. Nun gut, das Häuschen, in welches er am Dorfrand von St. David’s ziehen würde, war von ihrem Vermögen gekauft worden, und sie hatte es sich auf ihre sture Art auch nicht nehmen lassen, für die neuen Möbel aufzukommen.

Aber den Rest würde er von seinem, zugegebenermassen eher mickrigen Gehalt als Assistenzheiler finanzieren. Und er war schon recht stolz darauf, sich ein eigenes Leben aufzubauen, fernab von dem liebevollen, bemutternden und herrischen Einfluss seiner Tante und Adoptivmutter Arielle. Natürlich bedeutete das Landleben, dass Septimus in Zukunft weiter zur Arbeit reisen würde, immerhin war das Stadtanwesen der Weasleys nur wenige Gehminuten und einen Appariersprung vom St. Mungo entfernt.

Septimus spürte, wie er durch das reichhaltige Abendessen schläfrig wurde und sich wieder einmal, wie so oft in letzter Zeit, in Gedanken verlor. Dabei wollte er doch unbedingt den letzten Abend in Gesellschaft seiner geliebten Tante geniessen. Schliesslich würde er in den nächsten Wochen und Monaten wohl meist alleine die Mahlzeiten einnehmen und sich abends vor der Einsamkeit in ein Buch flüchten. Immerhin hatte er nicht vor, jedes Wochenende bei seiner Tante vorbeizuschauen, das war ja schliesslich nicht die Idee vom Ausziehen. Und bis er sich ein eigenes gesellschaftliches Leben in Wales aufgebaut hatte, mit eigenen Freunden und Bekannten und nicht denen seiner Tante, würde es auch noch ein wenig dauern. Nun gut, die Einsamkeit war nun einmal ein Teil seines Plans, den er in Kauf nehmen musste. Ein bisschen freute er sich auch darauf.

Seine Tante Arielle räusperte sich. Sie kannte ihn so gut! Sie spürte genau, wenn er weit fort in Gedanken war und anstatt ihn rüde aus seinen Tagträumen zu reissen oder ihn dafür zu belächeln, warf sie ihm nur einen liebevollen Blick zu und wartete, bis er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte.

«Septimus», fing sie nun an. «Ich wollte dir schon seit einer Weile etwas Wichtiges mitteilen.»

Septimus blickte sie leicht verunsichert an. Seine Tante rückte in der Regel sofort mit der Sprache heraus, wenn sie also bereits seit «einer Weile» etwas mit sich herumtrug, dann war es entweder etwas sehr Unangenehmes, Schlimmes oder Peinliches. Septimus konnte nicht anders, er malte sich bereits in Gedanken die schlimmstmöglichen Szenarien aus.

Dann sprach seien Tante weiter: «Du weisst, dass ich von Anfang an nicht von deiner Idee angetan war, dass du ganz alleine in diesem niedlichen kleinen Haus in St. David’s haust. Und ganz davon abgesehen, wer soll deine Socken waschen? Wer dein Bett machen? Wer soll dir etwas Anständiges zu Essen auf den Tisch stellen? Da du offensichtlich nicht gedenkst, dich in nächster Zeit mit dem Thema Heirat auseinanderzusetzen, fand ich, du bräuchtest eine Haushälterin! Du hast ja dieses leere Kämmerchen in deinem Haus und es hat sogar ein eigenes kleines Badezimmer.

Du hast also genügend Platz, eine Magd zu unterhalten, ohne etwas Unsittliches zu tun. Und ausserdem, was würden denn die Leute von dir denken, wenn du dort ganz alleine wohnst! Als wärst du ein Vagabund! Ein Mann von Stand und Klasse muss ein Dienstmädchen haben, das ihm den Haushalt erledigt! Ich habe schon jemand Geeignetes gefunden und sie auch schon nach Wales geschickt, wo sie bereits die Handwerker in den letzten Tagen beaufsichtigt hat. Ein sehr nettes Ding ist das. Die gute Madam Enoch hatte sie mir wärmstens empfohlen!

So eine Schande, dass die alte Dame verstorben ist, sie war eine ausgezeichnete Bridgespielerin! Nun gut, ich schweife ab. Auf jeden Fall ist Nellie bereits in deinem Haus, sie wird sich um dich kümmern. Nein! Keine Widerworte! Es ist alles organisiert», schloss sie ihren Monolog und hob die Hand, als wollte sie rein physisch seine Worte daran hindern, aus seinem Mund zu kommen.

Zuerst wollte Septimus ungehalten reagieren. Das konnte doch nicht angehen, dass seine Tante ihn so bemutterte und ihm nun auch noch die Haushälterin aussuchte! Er war immerhin ein erwachsener Mann von bald 24 Jahren! Dann atmete er tief durch. Er hatte seinem Tantchen viel zu verdanken, sehr viel. Nicht nur, dass sie ihn und seinen Bruder nach dem Tod ihrer Eltern bei sich aufgenommen und wie die Kinder, die sie nie gehabt hatte, aufgezogen hatte. Sie war auch für seine Studiengebühren aufgekommen, hatte ihm nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern ein echtes Zuhause geboten. Und sie meinte es ja nur gut.

Und so hörte er sich selbst lammfromm sagen: «Vielen Dank, Tante Arielle.»

Ungefragt redete seine Tante weiter und fing an diese neue Angestellte zu beschreiben: « Sie heisst Nellie Stalford, kommt aus Wales, aber aus einem anderen Dorf, keine Ahnung, irgend so ein Kaff. Sie ist wohl eine Hexe, eine Muggelstämmige. Aber sie hat nie eine richtige Schule besucht! Aber ein wenig Magie beherrscht sie dann doch. Zumindest meinte das Madam Enoch. Die Gute, hat immer diese armen Geschöpfe aufgenommen, die von ihren Muggeleltern verstossen wurden, wenn sie herausfanden, dass ihre Kinder Magie beherrschten! Gott hab sie selig», schloss sie, obwohl Septimus genau wusste, dass seine Tante Arielle gar nicht gläubig war.

Dann kam ihm ein Gedanke. Was, wenn seine Tante diese Nellie nur angestellt hatte, um ihn weiter unter ihrer Fittiche zu haben, um herauszufinden, mit wem er sich traf und ob er vielleicht sogar so etwas Unsittliches tat wie Frauenbesuch zu empfangen! Und sofort war er wieder ungehalten, spürte diese Ohnmacht und Hilflosigkeit, die ihn fast verschlang. Und er nahm sich vor, Nellie Stalford unter gar keinen Umständen zu trauen und sie gut im Auge zu behalten.
 

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Unruhig schlich Nathaniel Stewart durch die Gassen von St. David’s. Vorbei an den Pubs, in denen er sich kein Bier leisten konnte. Vorbei an den Feinwarengeschäften, deren Produkte unerschwinglich für ihn waren. Vorbei an den Läden für Bücher, Kleider, Schuhe, Lederwaren, Blumen, Gemüse, all die Orte, die voll waren mit Gegenständen, die nicht für ihn bestimmt waren. Und die er sich trotzdem zu Eigen machte, immer und immer wieder, heimlich, still und leise, auf kriminelle Art. Doch hier war er nun, fühlte sich ausgesperrt und hilflos. Dieses Gefühl hatte er zuletzt vor ein paar Jahren gespürt, er erinnerte sich noch zu gut daran.

Es ist kalt und ein eisiger Wind weht ihm um die Ohren. Sein dünner Umhang lässt die Kälte eher durch, als dass er ihm warm gebe. Doch all das nimmt Nate kaum war. Denn das Einzige, was er in seinem tauben Körper spürt ist, dass die Tatsache, dass er seit etwa einer Woche nichts mehr gegessen hat, ihn heute Nacht töten wird. Nun, so klar lässt sich das natürlich nicht sagen. Nathaniel schläft, wenn er müde ist, und wenn ihn der Hunger zu sehr plagt steht er auf und streicht durch die Strassen von St. David’s, bettelnd um eine Münze oder ein Stück altes Brot. Doch wo er auch hinkommt stösst er auf verschlossene Türen. Abweisende Gesichter. Kalte Schultern.

Nate hat das Gefühl für die Tage verloren. Er meint zu wissen, dass es der 23. Dezember ist, aber so sicher ist er sich da nicht. Wenn man stirbt, kümmert man sich nicht mehr um das aktuelle Datum. Wobei, eigentlich wäre es noch nett zu wissen, welches Datum denn nun genau ist, denn immerhin ist heute der letzte Tag seines (erbärmlichen) Lebens. Er weiss es. Spürt es in seinen mageren Knochen. Und es macht ihn nicht einmal traurig. Denn er weiss, dass der Tod nichts anderes ist, als eine Erlösung von dem Drecksloch, das ihm seine Eltern hinterlassen haben und das sich sein Leben nennt.

Er sitzt vor einem Hauseingang, in der Hoffnung, dass ihn durch den schmalen Türspalt vielleicht ein wenig der Wärme erreicht, die das hell erleuchtete Fenster verspricht. Auf der anderen Strassenseite öffnet sich eine Tür. Eine glückliche Familie verlässt das kleine reetgedeckte Häuschen, Mutter, Vater und zwei Töchter. Sie tragen ihre Sonntagskleidung, der Vater im schicken Anzug und die Frauen in hübschen Kleidern, alle dick eingehüllt in pelzbesetzte Mäntel. Sie scheinen spät dran zu sein, die Mutter zetert, sie sollten sich beeilen. Sie wollen in die Kirche. Es ist nicht der 23., es muss der 24. Dezember sein. Heilig Abend. Der Mann nestelt am Türschloss herum, der Schlüssel scheint zu klemmen. Dann gibt er auf, hastet seiner Familie hinterher, beachtet den klapprigen Mann auf der anderen Strassenseite nicht, der apathisch interessiert zusieht.

Als sie ausser Sichtweise sind, rappelt sich Nathaniel auf. Stolpert über die Strasse, rutscht auf dem Schneematsch, der das Kopfsteinpflaster bedeckt fast aus, strauchelt, fängt sich. Erreicht endlich die rettende Tür, klammert sich an die Klinke. Die Tür springt auf, der Vater hat sie in seiner Eile tatsächlich nicht abgeschlossen. Er muss nicht einmal seinen Zauberstab benutzen. Ein warmer Luftzug empfängt ihn. Nate traut sich nicht, das Licht zu entzünden, nicht einmal das seines Zauberstabes.

Vorsichtig tastet er sich durch die Dunkelheit voran, immer an den Möbeln entlang, vorsichtig um über keine Schwelle, keine Stufe zu fallen. Dann steht er in der Speisekammer. Er spürt, wie ihm heisse Tränen über das Gesicht laufen. Und noch während er anfängt, sich eilig die Taschen mit Leckereien vollzustopfen, ein Apfel hier, ein Stück Früchtebrot dort, vielleicht noch eine kalte Hähnchenkeule, murmelt er leise: «Frohe Weihnachten».


Nachdenklich blickt Nate in Gedanken zurück an diesen kalten Wintertag vor drei Jahren, als er beinahe gestorben wäre. Er lachte beinahe selbst über den Gedanken, warum so dramatisch Nathaniel? Und doch wusste er, dass es damals fast mit ihm zu Ende gegangen wäre. Wie töricht er doch gewesen war. Hatte einfach blind alles mitgenommen, was er zu greifen bekommen hatte, um es dann in der Stille seiner Hütte wild in sich hineinzustopfen, bis ihm der Bauch wehtat. Hatte den Vordereingang benutzt, an einer hellen, recht gut frequentierten Strasse! Wie leicht man ihm auf die Schliche hätte kommen können.

Doch anscheinend hatte die Familie keine Anzeige erstattet, obwohl sie mit Sicherheit bemerkt hatten, dass einige Speisen fehlten, einige Schüsseln weniger voll waren. Vielleicht hatte sich der Vater zu sehr geschämt zuzugeben, dass er die Tür nicht richtig abgeschlossen hatte. Ausserdem, es hatte ja nichts Wertvolles gefehlt, kein Geld und auch der Schmuck der Mutter war noch vollständig gewesen.

Und doch war es Nathaniel eine Lehre gewesen. Mit vollem Bauch und klarerem Verstand hatte er über seine Tat nachgedacht. Und war sich im Klarem darüber geworden, was für ein unsägliches Risiko er eingegangen war! Klar, das schlimmste was passieren konnte, war, dass ihn die Muggelpolizei schnappte und dann würde er im Gefängnis landen. Immerhin würde er dort nicht verhungern. Aber wenn er richtig Pech hatte, würde das Zaubereiministerium auf ihn aufmerksam werden und ihn mit etwas Unglück wegen Missbrauch der Magie oder Verstössen gegen das Statut zur Geheimhaltung der Zauberei anklagen und dafür konnte man sogar in Askaban landen!

Und so hatte er nachgedacht und sich entschieden, dass er nicht wieder stehlen würde.

Doch wenige Tage später lähmte ihn bereits wieder der Hunger, er fand einfach keinen Job und auch auf der Strasse hatte niemand ein paar Pence übrig. Wer wollte schon den Sohn vom Verrückten einstellen, der sich zu Tode gesoffen hatte. Dazu kam, dass Nate recht genaue Vorstellungen von einem Job hatte. Es durfte kein normaler Schreibtischberuf sein, nein, bewegen wollte er etwas in der Welt! Am liebsten wäre er zum Radio oder zu einer Zeitung gegangen, da er schon immer gut im Geschichten erzählen gewesen war. Aber keiner stellte ihn ein, denn die Zeiten waren hart und er hatte keinerlei Berufserfahrung. Und so hatte er den Entschluss gefasst, noch einmal, ein letztes Mal, in ein Haus einzusteigen, aber dieses Mal würde er sich nicht die Taschen vollstopfen, dieses Mal würde er vorsichtiger sein. Nur Dinge, deren Verlust keiner bemerken würde, wollte er mitnehmen. Er suchte sich ein Haus in einem anderen Quartier von St. David’s aus, spähte es aus, wartete, bis die junge Dame, die dort wohnte, wie jeden Donnerstagabend zum Tanzkränzchen ging (das hatte sie laut und deutlich ihrer Nachbarin erzählt), schlich in den Innenhof und tippte vorsichtig mit seinem Fichtenstab gegen eines der Fenster. Zack, schon war er drinnen. Eine Birne, zwei Rüben und eine Scheibe Brot später war er schon wieder verschwunden und keiner hatte etwas bemerkt.

Nur Nate hatte einen Unterschied wahrgenommen. War es beim ersten Mal noch ums nackte Überleben gegangen, hatte er dieses Mal noch etwas anderes gespürt. War es Vorfreude gewesen? Adrenalin? Der Genuss der Sicherheit, dass er nicht geschnappt werden würde? Das Gefühl, allmächtig, unbesiegbar zu sein. Nicht mehr so hilflos zu sein, so schwach und wehrlos.

Doch jetzt hatte er seine wertvollste Waffe verloren. Seinen Zauberstab. Ohne ihn war das Handwerk eines Einbrechers, eines Diebes ungleich schwerer. Natürlich hätte er es riskieren können, auf normale, unmagische Muggelart in Häuser einzusteigen. Das hätte den Adrenalinkick vielleicht sogar noch verstärkt. Aber erstens wollte er nicht geschnappt werden. Und zweitens war da ja noch sein anderer Job, seine offizielle Arbeitsstelle.

Und er hatte heute gemerkt, dass er, auch wenn er vermutlich als Erster gehört hatte, was im Ministerium los war, als Letzter dort angekommen war. Alles nur, weil er den verfluchten Muggelbus hatte nehmen müssen. Natürlich hatte er kein Ticket gelöst, aber es hatte ihn locker zwanzig Minuten gekostet, von seinem Büro in der Winkelgasse ins Zaubereiministerium zu kommen. So konnte es nicht weiter gehen.

Kurz dachte er die verschiedenen Möglichkeiten durch. Einen Zauberstab kaufen: Kam auf keinen Fall in Frage, ein Zauberstab kostete neu etwa 5 Galleonen. Nate überschlug seine finanzielle Lage mit einem schnellen Blick in seine lederne Börse. Drei silberne Münzen und eine kleine Hand voll kupferner. Das langte niemals.

Einen Zauberstab von einem Freund leihen. Nun, in der Regel waren Zauberstäbe zu teuer, dass man sie einfach übrighatte. Und besonders viele enge Freunde hatte Nate auch nicht. Das kam also auch nicht in Frage.

Geld von einem Freund leihen. Keine Chance, Nate lieh niemals gerne, er hatte schliesslich seinen Stolz! Und auch hier war das Problem, dass Nate eigentlich keine engen Freunde hatte, von denen er sich einfach mal 5 Galleonen hätte leihen können.

Er dachte kurz nach. Ein Zauberer ohne Zauberstab war ein Niemand. Und genau so fühlte sich Nate auch. Er schüttelte unwillig den Kopf. Er war Nathaniel Stewart, hochgelobter Moderator von Britains Broadcaster. Er war kein Niemand. Und er hatte einen Plan, wie er wieder an einen Zauberstab kommen würde.
 

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Sie waren ein knappes Dutzend, in dem grosszügigen Konferenzraum der Magischen Reichskanzlei, natürlich nur Männer. Die einzige Frau, die den Raum betrat war seine Sekretärin Gerda. Sie stellte eine Reihe Gläser, Wasserkaraffen und ein paar belegte Brote auf den Tisch. Die Sekretärin verliess den Raum und schloss diskret die Tür zu dem eichengetäfelten Raum hinter sich. Gut so, Weibsbilder hatten bei einer so wichtigen Versammlung nichts zu suchen. Einer seiner Gefährten, Aleydis Beinwil, zuckte mit der Hand, als wollte er sich eines der Schinkenbrote nehmen, aber ein kurzer Blick des Vorsitzenden Burkhart Schlutke genügte und der Idiot verkniff es sich. Stattdessen nippte er an seinem Wasserglas und blickte angestrengt auf die Unterlagen, die vor ihm lagen.

Dann stand der Magische Reichskanzler Schlutke auf. Weder erhob er die Stimme, noch räusperte er sich oder machte in irgendeiner anderen Weise darauf aufmerksam, dass er nun die Versammlung beginnen wollte. Er fing einfach an zu reden, mit eindringlicher, ruhiger, klarer Stimme, die dialektfrei vortrug, was er zu sagen hatte. Cyril blickte rasch auf die Uhr, die über der Tür hing. Exakt acht Uhr abends, auf die Sekunde genau. Schlutke war ein überaus pünktlicher Mensch, er tickte wie ein Schweizer Uhrwerk. Lag wohl daran, dass er für einige Jahre in St. Gallen bei den südlichen Nachbarn gelebt und als magischer Anwalt gearbeitet hatte. Dann hatte er das Recht der Unterdrückten für sich entdeckt und seine Partei gegründet, die Letzten Walpurger.

Er selbst, Cyril von Rommersdorf, war ursprünglich mal ein Arkanum gewesen, Teil des Geheimdienstes des deutschen Reiches. Dann hatte er vor einigen Jahren Burkhart Schlutke in Frankfurt am Rhein getroffen. Dieser hatte dort eine Rede vor Arbeitern gehalten und Cyril damit sofort in seinen Bann gezogen. Zuerst hatte er nur zugehört, weil Schlutkes Stimme so angenehm gewesen war, so einladend, als würde sie einen verstehen, all die Entbehrungen und die Ungerechtigkeiten, die er hatte erleiden müssen. Doch dann hatte er auch auf den Inhalt gelauscht und er war fasziniert gewesen. Was dieser Mann ohne jede Hysterie, ohne jede Eile, aber doch mit einer beängstigenden Eindringlichkeit, die einem unter die Haut ging, erzählte, schien zu stimmen.

Das deutsche Reich würde von den Unwissstämmigen überrannt. Reines Blut, die alten Namen und der Schutz der Zauberer vor den Unwiss würden immer weniger zählen. Der Lebensraum der reinen Zauberer würde immer knapper werden, weil er durch die Unwissschutzgesetze zusätzlich eingeschränkt würde. Schliesslich die ganzen Aborti, die unmagisch geborenen Kinder aus den altehrwürdigen Familien. Und dann auch noch die Seher, die versuchen würden, ihre Zukunft zu beeinflussen, die Legilimentiker, die ihre Gedanken stehlen würden und die Metamorphmagiker, die sich unerkannt unter sie mischen würden.

Doch am allerschlimmsten: die Regierung des deutschen Reiches! Der damalige Reichskanzler, Anselm Klopp, der erlaubte, dass sich Magier mit Unwissen mischten, der zuliess, dass Unwisse in magische Dörfer zogen und sich dort niederliessen, der sich immer noch nicht dazu hinreissen liess, endlich eine magische Schule im deutschen Reich zu gründen. Er, ja er war der eigentliche Verbrecher, denn es mit aller Härte zu verfolgen galt!

Was dieser Schlutke damals vor fünf Jahren zu erzählen hatte, hatte Cyril geängstigt und ihn gleichzeitig in einen merkwürdigen Bann gezogen. Ja, er hatte auch schon bemerkt, was Schlutke da beschrieb, dass es immer strengere Gesetze zum Schutz der Unwisse gab. Doch er hätte es nie gewagt, den geschätzten Herrn Reichskanzler in dieser Art öffentlich zu kritisieren! Nach der Rede ging er auf Schlutke zu und kam mit ihm ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass dieser nicht nur ein fantastischer Redner, sondern auch ein ausgezeichneter Zuhörer war. Sie unterhielten sich die ganze Nacht, und nach einigen Monaten, vielen Briefwechseln und langen Nächten voll interessanter politischer Diskussionen waren aus den beiden Fremden Weggefährten geworden.

Als Schlutke ein Jahr später, im Jahr 1936 seine Partei, die Letzten Walpurger gründete, war Cyril Gründungsmitglied gewesen. Zweieinhalb weitere Jahre später waren die Letzten Walpurger nicht nur die führende Partei im Reich. Nein, sie hatten es auch geschafft, dass sie mittlerweile die einzige Partei waren! Nachdem die Unwisse den Krieg gegen Polen geschickt als eine Reaktion auf einen hinterhältigen Angriff durch die Osteuropäer verkauft hatten, hatte auch die Magische Reichskanzlei nachgezogen und das Kriegsrecht ausgerufen. Es waren diverse Schutzgesetze für Zauberer ins Leben gerufen worden. Eines, eine seiner Ideen, auf die Cyril besonders stolz war, war ein Gesetz, welches Zauberern und Hexen erlaubte, einen Unwiss zu töten, wenn dieser einen Magier angriff. Dabei hatte der Magier nicht zu beweisen, dass er angegriffen worden war, nein, die Unwisse hatten zu beweisen, dass der Unwiss vorsätzlich ermordet worden war. Und warum sollte ein Magier so etwas tun, wenn nicht aus Notwehr?

Dazu kamen diverse Lebensraumschutzgesetze, die vorsahen, dass diverse magische Ortschaften unter Schutzzauber gestellt wurden, damit keine Unwisse mehr in die Nähe kommen würden. Ausserdem Gesetze, die die Vertreibung ebendieser aus magischen Dörfern vorsah. Dann natürlich das Gesetz, welches die Verbindung von Magiern mit Unwissen verbot, sei es sexueller, vertraglicher oder geschäftlicher Art.

Doch ihre Höchstleistung, war die Festnahme dieses elenden Klopp gewesen, des ehemaligen magischen Reichskanzlers, den sie wegen Volksverrat und Verstossen gegen den Schutz der Magier zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt hatten. Der Idiot Beinwil hatte natürlich vorgeschlagen, dass sie ihn öffentlich hinrichteten, aber Schlutke und auch er selbst, von Rommersdorf waren aus guten Gründen dagegen gewesen. Zum einen hätte die Hinrichtung eines ehemaligen Reichskanzlers die umliegenden Länder, in denen Klopp einige gute Freunde hatte, auf den Plan gerufen. Dann waren natürlich die ganzen Parteifreunde von Anselm Klopp im Reich, die zum Teil noch immer hinter ihm standen. Und zu guter Letzt wusste man ja nicht, ob man Klopp nicht doch noch für irgendetwas gebrauchen konnte.

Ja, wenn Cyril auf die letzten fünf Jahre zurückblickte, erfüllte sich sein Kämpferherz mit einem nie dagewesenen Nationalstolz.  Dass sie nun hier in dieser Konstellation zusammenkamen war ein wahrer Sieg! Doch nun galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren, nicht den Stolz überhand nehmen zu lassen, sondern den Verstand einzuschalten.

Schlutke redete noch immer. Mit entspannter Aufmerksamkeit folgte Cyril dem Vortrag. Es ging um das Tagesgeschäft, aber auch um andere interessantere Dinge. Wie zum Beispiel die Planung der Vernichtung von allen Kaputnixen, konkret der Aborti, Metamorphmagi, Legilimentiker, Seher in einem ersten Schritt, der Unwissstämmigen in einem zweiten. Das war schon mehr nach Cyrils Geschmack. Er konnte alles Andersartige nicht leiden! Als er ein Kind gewesen war, hatte sein Bruder Boris einen anderen Jungen geliebt. Wie die Tiere hatten sie es in einem Gerstenfeld getrieben. Aber als Cyril und seine Gruppe dahinter gekommen waren, hatten sie die beiden so gründlich vermöbelt, dass dem einen Jungen danach vier Zähne fehlten und sein Bruder einige gebrochene Rippen hatte.

Schon immer hatte Cyril das Ordentliche, das Gerade, das Richtige gemocht. Alles Fremde war ihm ein Graus. Eines Tages war ihm zum Beispiel ein Schwarzer über den Weg gelaufen, mitten in Berlin! Pfui, da hatte er natürlich sofort die Strassenseite gewechselt und auf den Boden gespuckt, als der Schwarze geschaut hat! Auf das dieser verstehe, dass er im schönen weissen deutschen Reich nichts, aber auch gar nichts zu suchen habe!

In diesem Moment erhob Aleydis Beinwil das Wort, wagte es, den Reichskanzler zu unterbrechen. Noch während er redete, erbebte ein leises Zischen von den Anwesenden den Raum. Was machte dieser Kaputnix eigentlich bei ihnen, im Kreis der Altvorderen, der Leitung der Letzten Walpurger. Aber natürlich wusste Cyril die Antwort, weswegen er sich mit seiner Entrüstung auch zurückhielt. Aleydis Beinwil war kein echter Kaputnix, Cyril nannte ihn nur in Gedanken immer so, denn von seinem Verstand her hätte dieser Idiot ebenso der Sohn eines Unwisses sein können. Er war der Erbe einer ebenso reinen wie auch reichen deutschen Familie. Und ebendiese Familie besass, neben diversen anderen Unternehmungen, auch eine Fabrik, in der magische Waffen hergestellte wurden. Und diese hatten zum Teil einen erstaunlichen Knalleffekt. Sie konnten nicht auf die Unterstützung der Familie Beinwil verzichten und wenn das bedeutete, diesen Dummkopf in ihren Reihen zu haben und ihn mit einer nicht so wichtigen Aufgabe zu betrauen, dann war dem eben so. Sie hatten Aleydis die Leitung der Walpurgis-Hexen, der Frauengruppe ihrer Partei gegeben und es dabei auch noch so geschickt verkauft, dass dieser nun den Eindruck hatte, die wichtigste Aufgabe der ganzen Partei inne zu haben! Pah, als ob jemanden das Weibervolk interessierte.

Er selbst, Cyril von Rommersdorf, hatte im Übrigen eine tatsächlich wichtige Position inne. Er war der Leiter der Walpurgischen Exekutive, also der Sicherheitspolizei der Regierung. Er verfolgte nicht nur Kaputnixe, sondern auch alle anderen, die in irgendeiner Weise gegen die Regierung arbeiteten, also Reporter, Lehrer, Wissenschaftler, Religiöse und Kommunisten. Widerliches Volk! Während noch immer Unruhe im Raum herrschte, fing der Reichskanzler wieder an zu sprechen.

«Meine Gefährten, meine Gefährten. Beruhigen Sie sich. Wir haben Wichtigeres zu besprechen, als die Unterbrechungen des Herrn Beinwil. Es geht hier um Angelegenheiten von nationaler Bedeutung! Diese gestatten keinen Aufschub, diese gestatten keine Fehler und diese gestatten keine Gnade. Meine Herren, vergessen Sie nicht das grosse Ziel. Die Sicherung des Lebensraums für die Reinheit der Magier!»

Und mit diesen Worten schlug er sich die rechte Faust auf die linke Brust, über sein Herz und alle anderen Männer im Saal taten es ihm nach. Und Cyril spürte, was vermutlich alle in diesem Raum fühlten. Dass sie alles für den Sieg geben mussten. Sie hatten keine andere Wahl.

PLACES

 

St. David's

Berkley Park

Septimus' Haus

Ollivanders Haus

London

Arielles Stadthaus

Deutsches Reich

Magische Reichskanzlei

PEOPLE

Armando Newton

Nellie Stalford

Eliza Goldstein​

Amelia Thompson

Septimus Weasley

Nathaniel Stewart

PEERS

Arthur Newton

Cassiopeia Newton

Garrick Ollivander

Robert Goldstein Junior

Charles Thompson

Arielle Weasley

Cyril von Rommersdorf

Gerda Goldstein

Aleydis Beinwil

Burkhart Schulte

HISTORY

4. Januar 1940

Donnerstag

"Das irische Parlament in Dublin genehmigt die am Vortag eingebrachte Gesetzesvorlage zur Internierung von Mitgliedern der Irisch-Republikanischen Armee (IRA)."

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