Zella Day - 1965
"A Winter Rose"

Aubigny-en-Artois, 1. Januar 1940
Meine geliebte Kleine,
Vier Tage sind jetzt vergangen, seit wir in Dover gestartet sind. Das neue Jahr feierten wir bei heissem Wasser (Tee ist streng rationiert), aber mit guter Stimmung unter sternenklarem Himmel an der französischen Nordsee. Es tut mir so leid, dass wir den Beginn des neuen Jahrzehnts nicht zusammen verbringen konnten. Und es wird ein Jahrzehnt, das in die Geschichte eingehen wird, so viel kann ich dir versprechen, kleine Schwester.
Die meisten Kameraden sind ganz wild auf die erste Schlacht und können es kaum abwarten, den Deutschen mal so richtig den Arsch zu versohlen. Der Lieutenant musste sogar schon Duelle im Lager verbieten, bevor sich die gesamte Kompanie gegenseitig auslöscht, noch bevor wir überhaupt den Feind erblicken.
Das Essen ist nicht so übel wie es die Gerüchte vermuten liessen. Dennoch, es kommt nicht an den Weihnachtsbraten von letzter Woche heran. Ich bin so froh, dass wir dieses besinnliche Fest noch zusammen feiern konnten, bevor ich eingezogen wurde.
Das Wetter ist erträglich, ähnlich wie in Wales bei Grossmutter, aber weniger Niederschlag, dafür umso kälterer Frost.
Wie macht sich Veve in der Schule? Fleissig am lernen, hoffe ich doch! Jedenfalls hat sie noch nicht auf meinen letzten Brief geantwortet, aber immerhin bin ich ja auch erst seit einer Woche unterwegs. Ich bin so froh, dass ich nicht in ihrer Haut stecke. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich nächtelang über diesem Aufsatz über die Trollkriege für Professor Binns gebrütet habe. Das hier ist definitiv besser und lieber schlafe ich eine Woche auf dem gefrorenen Boden eines schlammgefüllten Schützengrabens, als mir einen weiteren Nachmittag in der Bibliothek um die Ohren zu schlagen.
Gespannt warten wir alle auf den ersten Kampf, der Blutdurst hat das Lager definitiv bereits erfasst.
Soll ich dir eigentlich eine Kuckucksuhr mitbringen? Das haben doch all die Deutschen in ihren Wohnungen, oder nicht?
Mit all meiner Liebe und dem Versprechen gesunder Rückkehr,
Dein Dacre
Wie oft hatte Rosalia diese Zeilen in den letzten zwei Tagen bereits gelesen? Hatte das dünne Militärpapier dutzende Male auf und zu gefaltet, sodass die Kanten bereits ganz fadenscheinig geworden waren und der untere Abschnitt mit seiner Signatur abzureissen drohte.
Wütend pfefferte sie den Brief mit der Handschrift, die ihr so vertraut war, in die Nachttischschublade des kalten und spärlich eingerichteten Zimmers.
Doch ihre Wut richtete sich nicht gegen ihren idiotischen Bruder, der in einen idiotischen Krieg gegen andere idiotische Zauberer gezogen war. Sondern gegen ihren herrischen Vater, der meinte, sich in ihr Leben einmischen zu müssen und das Ganze auch noch mit dem Argument, es sei ja nur zu ihrem persönlichen Wohl. Sie war schliesslich nicht nur bereits zwanzig Jahre alt und damit eine erwachsene Frau, sondern auch selbstständig und in ihrer Position im Zaubereiministerium sehr erfolgreich.
Sie blickte auf aus dem eisverkrusteten Fenster auf den winterkargen Garten.
Einen völlig anderen Anblick hatte sie noch vor drei Tagen gehabt. Sie hatte aus dem Fenster des Stadthauses ihrer Eltern geschaut und direkt auf die hohe Dornenhecke gestarrt, die das Grundstück mitten in Mayfair umgab.
Seit sie ihr eigenes Haus in einem Vorort Londons hatte, war es nicht mehr vorgekommen, dass ihre Eltern sie mit einer solchen Dringlichkeit zu sich baten. Doch an diesem Nachmittag, kurz nach Beginn des neuen Jahres hatte ihr Vater ihr nicht wie sonst seine grosse Adlereule geschickt, sondern direkt seinen Greifen-Patronus gesendet. Dieser hatte ihr mit der tiefen und leicht rauen Stimme Gadreel de Vautarts mitgeteilt, dass sie sich bitte noch am selben Abend im Anwesen der Familie einfinden solle.
Dort am Fenster war sie gestanden, hatte die Kälte gespürt, die durch das Glas zu dringen schien und hatte sich gefragt, warum ihr Vater sie her zitiert hatte wie ein ungezogenes Schulmädchen, dem die Leviten gelesen werden sollten.
Das Gespräch war dann sowohl überraschend als auch ärgerlich verlaufen.
Anstatt ihr Vorwürfe zu irgendeiner herbeigezogenen Angelegenheit zu machen oder sie über ihr Privatleben auszufragen, war ihr Vater, anders als gewöhnlich, direkt zum Grund seiner Einladung gekommen.
«Deine Grossmutter ist krank geworden, eine recht üble Erkältung geht im Moment in Wales um und sie fühlt sich seit Tagen immer schlechter und schwächer. Ich möchte sie in so einem Zustand nicht alleine wissen. Deine Mutter und ich haben die nächsten Wochen Verpflichtungen nachzugehen, weswegen wir die Stadt unmöglich verlassen können», hatte er gesagt.
Da hatte Rosalia schon geahnt, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde und war ihrem Vater vorausgekommen: «Du willst, dass ich für ein paar Tage zu Grossmutter nach St. Davids reise und sie pflege? Aber ich habe einen Job!»
«Ich möchte nicht, dass du für ein paar Tage gehst, ich verlange, dass du dich so lange um sie kümmerst, bis es ihr wieder gutgeht. Sie ist deine hochgeschätzte Grossmutter, die sehr an dir hängt und du wirst diese kleine Unannehmlichkeit mit Würde ertragen. Davon abgesehen, gefällt mir weder der Gedanke, dass sie alleine in diesem Haus lebt, noch die Idee, dass du in London…»
«…dass ich in London?», hatte Rosalia gefragt, als er seinen Satz abgebrochen und unruhig ins Nichts gestarrt hatte.
«Dass du selbstständig in diesem Häuschen wohnst. Deiner Mutter und mir hat der Gedanke daran noch nie gefallen. Die Landluft wird dir guttun, du siehst so blass aus.»
Rosalia hatte geseufzt. Widerstand war zwecklos und ausserdem war sie sich ja auch in Sorge um ihre Grossmutter gewesen.
Noch am selben Abend hatte sie das Nötigste gepackt, lange würde sie ja schliesslich nicht bleiben, und war am nächsten Tag nach Wales appariert. Die Reise war lang und beschwerlich gewesen, denn in ganz Grossbritannien hatte es stark geschneit und gestürmt. Sie war in fünf Etappen appariert, da sie sich nicht übermässig gut in der Gegend auskannte, gleichwohl sie ihre Grossmutter regelmässig besuchte.
Allerdings hatte sie es nicht riskieren wollen, noch im St. Mungo-Hospital für magische Krankheiten zu landen, da sie sich wegen Unvorsichtigkeit zersplintert hatte. Und so war sie einmal mitten in einer verdächtig schmutzigen Schneewehe gelandet, und das auch noch in ihrem besten Fuchspelz. Fluchend hatte sie den weichen schwarzen Mantel vom Schmutz befreit und war zum nächsten Ort appariert.
Ihre Grossmutter Malvine Greengrass hatte sie erfreut aufgenommen, allerdings hatte Rosalia nicht den Eindruck gehabt, dass es ihr übermässig schlecht gegangen wäre. Aber was wusste sie schon von Krankheiten bei alten Leuten.
Das rasselnde Husten der älteren Dame riss die junge Hexe aus ihren Gedanken. Abrupt drehte sie sich vom weiss verschneiten Fenster weg und ging zügig in das Schlafzimmer ihrer Grossmutter. Es war eisig im Raum. Die schmächtige alte Frau, die im Bett sass und sich die Hand an die knöcherne Brust hielt, dachte gar nicht daran, «nur wegen ein bisschen Wehwehchen» die Feuerstellen anzuheizen.
Nun fühlte Rosalia doch eine Welle der Besorgnis in sich aufkeimen. Der Zustand ihrer Grossmutter war seit dem Mittagessen stetig schlechter geworden. Ausserdem fiel ihr heute zum ersten Mal auf, dass ihre Grossmutter deutlich an Gewicht verloren hatte. Dennoch, auch wenn es nicht mehr ganz so perfekt sass wie sonst, war ihr Haar ordentlich frisiert und gekämmt. Es war Mittwochabend und Rosalia hatte keine Ahnung, wo sie um diese Uhrzeit in diesem Kaff am Ende der Welt einen Heiler oder auch nur eine Kräuterfrau finden sollte.
«Wenn du mir sagst, wo ich einen Heiler finde…» fing sie an, doch Malvine unterbrach ihre Enkelin unwirsch: «Papperlapapp, ich habe schon dutzende walisische Winter überlebt, die du dir nicht einmal in deinen kühnsten Träumen vorstellen könntest. Das bisschen Husten wird mich auch nicht umbringen. Komm, setzt dich zu mir, mein Kind, und erzähl mir von deinem aufregenden Leben in der grossen Stadt.»
Doch ein weiterer Hustenkrampf brachte das Bett zum Beben und dieses Mal sprenkelte er das blütenweisse Taschentuch ihrer Grossmutter, das diese reflexartig vor ihren Mund hielt, mit roten Blutströpfchen.
«Grossmutter!» rief Rosalia entsetzt. Selten hatte sie sich so machtlos gefühlt. Ob sie Hilfe holen sollte? Aber wo? Sie kannte doch hier kaum jemanden.
Wenn doch nur Dacre da gewesen wäre. Insgeheim schämte sie sich für diesen Gedanken, schliesslich war sie eine eigenständige, selbstbewusste, erfolgreiche junge Frau. Und doch, in diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr als ihren grossen Bruder um sich zu wissen, die Verantwortung mit jemanden zu teilen. Albernes Ding, schalt sie sich selbst, wenn einer Hilfe und Schutz gebrauchen konnte, war es ihr sorgenloser Bruder, der sich gerade durch den französischen Schlamm grub.
«Vielleicht kann ich ja mal einfach durch das Dorf laufen und schauen, ob ich jemand finde, der uns ein paar Heilkräuter verkauft?», und mit diesen Worten stand sie vom Bettrand auf, ohne auf Widerworte ihrer Grossmutter zu warten. Irgendwo würde sie schon Hilfe finden.