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Imagine Dragons - Bleeding out

 

"Bleeding out"
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Septimus hatte Mühe die Augen offen zu halten. Er war seit einundreissig Stunden wach, hatte sich mit Schwarztee zugedröhnt und am Ende sogar einen Kaffee geleistet. Der war sündhaft teuer gewesen, da er aus den afrikanischen Kolonien importiert werden musste. Doch es half nichts, seine Augen fielen immer wieder zu, egal wie sehr er sich zwang sie wieder aufzureissen.

Er versuchte sich zu entspannen, nahm einen tiefen Luftzug voll Desinfektionsmittelgerüchen und dem Gestank nach abgetragenen Kitteln und versuchte ein weiteres Mal die Augen zu öffnen. Es war beinahe zwölf Uhr mittags, seine Schicht endete bald und er musste nur noch ein paar Berichte fertig schreiben.

Septimus sass in seinem Büro, die kalte Januarsonne schien unerbittlich hell in den winzigen Raum und erinnerte ihn daran, dass er letzte Nacht keinen Schlaf bekommen hatte, denn er fühlte unter dem grellen Licht wie seine trockenen Augen schmerzten. Er hatte Dienst gehabt und das bedeutete für junge Heiler: Frühdienst plus Nachtdienst plus einen weiteren Frühdienst. Denn natürlich war es einem Heiler in seinen ersten drei Jahren nach der Ausbildung nicht erlaubt einfach so bei der Frühvisite zu fehlen, da war schliesslich die einzige Möglichkeit seines Chefs ihn nochmal auf Herz und Nieren zu prüfen, seine Entscheidungen zu kontrollieren und zu hinterfragen und ihn mit Fragen zu quälen.

«Heiler Weasley, warum haben Sie dem Patienten Murtlap-Essenz bei einem einfachen Crupp-Biss gegeben? Heiler-Weasley, können Sie mir den Unterschied in der Therapie nennen, wenn dem Arm die Knochen weggezaubert wurden gegenüber wenn die Armknochen magisch versteinert wurde?»

Es war schon wieder passiert, er hatte sich in Gedanken verloren anstatt an der Patientengeschichte weiterzuschreiben. Chefheiler Cattleback wäre gar nicht erfreut, wenn er bis Ende der Schicht nicht fertig wäre.

«Konzentrier dich, konzentrier dich…» murmelte Septimus wie ein inneres Mantra vor sich hin.

«Der Patient entwickelte im Laufe des 1. Januar nach der Behandlung mit Murtlap-Essenz Klammer auf 0.75 g 3x/d kutan Klammer zu violetten Haarwuchs aus beiden Ohren. Dies …», warte, war es aus beiden Ohren gewesen? Septimus war sich nicht mehr sicher. Er meinte sich zu erinnern, dass es aus dem linken Ohr recht stark gewuchert war, aber rechts? Sollte er es riskieren es so in den Bericht zu schreiben, mit dem Risiko, dass Chefheiler Cattleback seinen Rapport in Flammen aufgehen liess und zu Asche verwandelte, wie er es schon einmal getan hatte?

«Dies vor allem aus dem linken Ohr und weniger aus dem rechten. Vermutlich war dieses Symptom einer leichten Überdosierung mit Murtlap-Essenz geschuldet. Der Patient wurde von Heiler S. Weasley über das weitere Vorgehen und die Dosisänderung aufgeklärt. Innerhalb der nächsten Stunden nahm der Haarwuchs ab, das Haar konnte anschliessend magisch durch Heiler S. Weasley entfernt werden…», ja und auch eine Menge Ohrenschmalz. Septimus hatte noch nie so grosse Pfropfen gesehen, er musste allerdings auch zugeben, dass Mr. Bibblius, der Patient sehr grosse Ohren gehabt hatte. Unwillkürlich fuhr sich Septimus an seine eigenen Ohren. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie es da drin aussah…

«Konzentrier dich!» fuhr er sich selbst im Stillen an.

«Der Patient wurde am heutigen 2. Januar in gutem Allgemeinbefinden nach Hause entlassen.» Fertig! Der letzte Bericht war geschrieben, jetzt nur noch einen kurzen Abstecher zu seinen Patienten um zu sehen ob noch alle lebten, dann durfte er heim.

Septimus stand von seinem klapprigen Holzstuhl auf, sein Rücken schmerzte von der harten Lehne. Er streckte sich, dann packte er einen Stapel Pergamente von seinem überfüllten Schreibtisch und durchquerte in zwei Schritten sein kleines Büro.

In dem dämmrigen Flur traf er seinen Chef. Ausgerechnet der, Septimus hatte nicht gerade das beste Verhältnis zu Heiler Cattleback. Nicht weil der irgendwie besonders fies zu ihm war, aber er wollte alles ganz genau wissen und liebte es die Studenten und jungen Heiler mit Zusatzaufgaben und schwierigen Fragen zu trietzen. Klar, Septimus wusste schon, dass er das machte, um aus ihnen gute Heiler zu machen, die Leben retteten und nicht Menschen umbrachten. Aber er war sich gleichzeitig sicher, dass es Cattleback insgeheim Spass machte sie zu ärgern.

«Heiler Weasley» sagte der ältere Heiler mit seiner knarzenden Stimme. Warum klang jeder Satz, den dieser Mann sagte so unnötig langgezogen?

«Heiler Cattleback, Sir!» antwortete Septimus steif. Medizin ist Militär. Das war die erste Lektion von Cattleback, einem ehemaligen Offizier gewesen. Die Hierarchie war militärisch, die meisten neuen Entwicklungen waren dem Militär geschuldet und man hatte sich mit militärischer Präzision an die Richtlinien zu halten. Nun ja, Septimus wich manchmal ein klitzekleines bisschen vom Leitfaden ab. Aber wie sonst hätte er mit Versuch und Irrtum neue, verbesserte Therapien finden sollen? Wie sollte sich die Medizin weiterentwickeln, wenn man nicht manchmal ein bisschen was riskierte? Klar, Septimus hatte nicht vor einen Patienten zu killen, das Wohl der ihm Anvertrauten lag ihm wirklich am Herzen, vielleicht ein bisschen zu sehr. Aber gleichzeitig wollte er sich auch weiterentwickeln, nicht einfach nur den vorgelaufenen Weg nachtrotten.

Er wünschte sich so sehr ein toller Heiler zu sein, am besten noch besser als sein Bruder Lancelot. Klar, Lancelot war nicht der aller talentierteste… Er war gut, aber ihm fehlte der Wunsch sich zu verbessern. Der Wunsch ein Revolutionär zu werden. Und er arbeitete für sich, für sein eigenes Wohl, nicht für das der Patienten. Und das war es, was Septimus ihm auch schon im Streit vorgeworfen hatte. Das er nur an sich denke, nie an die anderen, die Schwächeren.

«Denk jetzt nicht an ihn», dachte Septimus für sich.

«Haben Sie mir zugehört?» schnarzte Cattleback.

Scheisse, hatte er nicht. Er hatte mit offenen Augen geträumt, mal wieder…

«Entschuldigung, Sir…» fing er an, zwang sich aber sofort zum Schweigen. Dem alten Heiler waren seine lächerlichen Ausreden absolut egal, es hatte keinen Sinn seinen Atem zu verschwenden.

«So wird das aber nichts…» meinte Cattleback nur mit einem gehässigen Grinsen. «Ich sprach davon, dass eine Stelle als Abteilungsleiter frei wird. Und dass Sie sich bewerben sollten. Falls Sie denn irgendein Interesse an einer weiteren Karriere haben. Aber offensichtlich habe ich Sie falsch eingeschätzt und Sie sind nur idealistischer Träumer…?» Den letzten Satz hatte er wie eine Frage formuliert, also antwortete Septimus knapp: «Nein Sir, Sie haben sich nicht in mir geirrt.»

«Nun dann sollten Sie sich beeilen. Die Frist ist bis Ende Januar. Sie müssen einen Fall, den Sie bearbeitet haben kritisch beschreiben, erklären wie Sie vorgegangen sind und wie Sie sich anhand dieses Falles als Heiler verbessert haben. Das sollte ja nicht so schwierig sein, immerhin haben Sie noch viel zu lernen und sollten sich demnach bei jedem Fall in irgendeiner Weise entwickeln.» War das fies gemeint gewesen? Septimus war sich nicht sicher, es fiel ihm manchmal schwer solchen versteckten Spott zu erkennen. Nate sagte immer, er sei einfach zu nett für die Welt. Vermutlich hatte er damit recht.

«Ich würde mich geehrt fühlen mich auf eine solch verantwortungsvolle Position zu bewerben, Sir»

«Dann bin ich ja mal gespannt, was Sie mir präsentieren werden. Ich bin zufälligerweise unter den Heilern, die die Entscheidung über die vakante Stelle treffen werden. Und nun geben Sie mir endlich die Berichte, die sie da halten!»

Septimus hatte die Berichte inzwischen völlig vergessen. Rasch drückte er sie seinem Boss in die Hand. Doch anstatt entlassen zu werden, fing dieser an das erste Pergament zu entrollen. Septimus roch die frische Tinte, zusammen mit dem Schweissgeruch seines Bosses bis hierhin, es war doch nicht etwa etwas verwischt? Unschuldig warf er einen raschen Blick auf das Blatt, nein, alles gut. Er atmete erleichtert auf.

«Mhmhmh» machte der knarzige alte Mann. Oh je, was bedeutete das jetzt schon wieder. Septimus wollte doch nur heim, einen schnellen Tee mit Tante Arielle trinken und dann in sein warmes Bett schlüpfen. Schnell warf er einen unauffälligen Blick an die grosse Uhr, die im Treppenhaus hinter seinem Chef hing. 12 Uhr 05…

«Müde?» fragte Cattleback hämisch. «Nein, Sir..» fing Septimus an, doch der Heiler unterbrach ihn, «Lügen Sie nicht! Sie sind seit gestern früh hier. Vielleicht schicke ich Sie besser heim, bevor Sie mir vor lauter Schläfrigkeit noch einen Patienten umbringen!»

War das nett gewesen? Irgendwie schon, trotzdem fühlte sich Septimus beleidigt. Ausgerechnet er, der mit den besten Noten des Jahrganges an der Heilerschule abgeschlossen hatte wurde beschuldigt Patientenleben zu gefährden. Er, der alles für seine Patienten tat, sich für jeden mit viel Dafür und Dawider die richtige Therapie überlegte und sich auch nicht zu fein war, über dicken Wälzern zu brüten bis er eine Lösung für das Problem seines Patienten fand. Er, der regelmässig am Patientenbett sass und den Kranken zuhörte, aufmerksam war, mitfühlend und zugänglich. Er wusste, dass er einer der wenigen war, die sich die Mühe machten mehr über den Patienten herauszufinden als medizinische unbedingt nötig.

Septimus war überzeugt, dass es den Menschen beim Genesen half, wenn man ihnen freundliche Aufmerksamkeit schenkte, ausserdem war das einfach sein Stil. Aber er wurde von einigen der anderen Heiler als Zeitverschwender und verweichlicht belächelt.

Oh nein, er war wieder in Gedanken versunken gewesen. Doch anscheinend hatte er nichts Wichtiges verpasst, der andere Mann war immer noch in den Pergamenten versunken.

«Gehen sie heim, Weasley, ich lese das durch und sage Ihnen morgen früh, was Sie alles falsch gemacht haben.»

Mit diesen Worten drehte sich der Alte um und schlurfte den tristen Flur entlang.

Septimus atmete tief ein und aus, dann stürmte er zurück in sein Büro, warf seinen Kittel über den Stuhl und schnappte sich seine lederne Arbeitsmappe.

Er sah sich ein weiteres Mal in seinem Büro, dass er sich mit einem anderen Heiler teilte um, um sicherzustellen, dass er nichts vergessen hatte. Es waren mühsam zwei Schreibtische und ein kleines vollgestopftes Regal in den Raum, der eher eine Kammer war gezwängt worden und dann war da noch ein Kleiderständer der von alten Kitteln überhäuft war. Ja, er hatte alles.

Schnell eilte er wieder raus auf den Flur, runter in die Eingangshalle, wo sich die Kranken zur Erstversorgung sammelten wie Bettler an einer Suppenküche. Und rannte dabei beinahe in Diane.

«Pass doch auf Weasley», schnauzte die junge Heilerin ihn an. Sie war hübsch, auf eine sehr klassische Art, mit ihrer Stupsnase und den langen braunen Haaren und den grünen Augen. Und doch war sie nicht Septimus’ Typ, zu bissig, zu energisch und zu kompetitiv wie sie war.

«Bewirbst du dich auch auf die Stelle?», fragte sie und bevor er überhaupt für eine Antwort Luft holen konnte fuhr sie mit ihrer melodischen fort: «Ich habe ja schon den perfekten Fall über eine Frau, die versuchte sich in eine Schlange zu verwandeln. Sie hat sich nur halb verwandelt und schliesslich mit ihren Giftzähnen auf die Lippe gebissen. Das war eine unglaubliche Herausforderung sie erst von der Vergiftung zu heilen und dann…»

Septimus schaltete auf Durchzug, Diane Sandringham konnte man unmöglich stoppen. Sie bezeichnete ihn als Freund, seit er mit ihr zur Heilerschule gegangen war, einer der Gründe, warum sie so vertraulich mit ihm redete. Ausserdem wusste sie einfach nicht, wie aufdringlich sie war. Er wartete einige Augenblicke, schaute dann theatralisch auf seine Uhr und stöhnte laut auf: « Oh nein, schon so spät, ich bin noch verabredet, Diane…»

«Mit wem?» fragte sie misstrauisch, «Du hattest doch eine Nachtschicht?», aber Septimus hörte sie schon nicht mehr, denn noch während sie redete, war er zum Ausgang geflitzt und in der Menschenmenge auf der Strasse verschwunden.

PLACES

London

St. Mungo-Hospital

PEOPLE

Septimus Weasley

PEERS

Rufus Cattleback

Diane Sandringham

HISTORY

2. Januar 1940

Dienstag

​Winterkrieg: Schneestürme beenden die Kampfhandlungen auf der Karelischen Landenge.

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